PianoMe Talks: Interview mit der Konzertpianistin Eleonora Em

PianoMe Talks: Interview mit der Konzertpianistin Eleonora Em

In dieser Ausgabe durften wir die Konzertpianistin Eleonora Em zum Interview begrüßen. Gemeinsam sprachen wir über die Lage der jungen Pianist:innen im deutschsprachigen Raum, über ihre aktuellen Projekte und darüber, welche persönliche Bedeutung das „Musizieren“ für sie hat.


PianoMe (PM): Liebe Eleonora, vielen Dank Dir für Deine Zeit! Es ist uns eine große Freude, dass Du zu einem Interview mit PianoMe bereit bist!

Eleonora Em (EE): Sehr gerne! Ich freue mich sehr, Euch kennenzulernen und danke Euch herzlich für diese Möglichkeit zum Austausch. Ich bin schon gespannt auf die kommenden Fragen!

PM: Vorstellen müssen wir Dich unseren Leser:innen nicht mehr. Du bist eine Künstlerin zwischen den Welten – geprägt von der lyrischen Weite des Ostens und der strukturellen Klarheit des Westens. Du lebst in der Schweiz, trittst regelmäßig als Solistin, Kammermusikerin und Korrepetitorin auf – mit Orchestern, Chören und Ensembles. Zudem hast Du einen Lehrauftrag an der Kantonsschule Ausserschwyz und der Musikschule Freienbach. Deine Offenheit und Vielseitigkeit im Umgang mit Klavierliteratur hast Du bereits im Rahmen Deiner abwechslungsreichen CD liminal“ unter Beweis gestellt.

EE: (lacht) Das nenne ich eine großartige Interviewvorbereitung – vielen Dank! Hinter meinem letzten Schallplattenprojekt liminal“ steckt tatsächlich sehr viel Herzblut, aber auch eine Menge Planung und Arbeit. Es freut mich jedes Mal, wenn ich höre, dass die Schallplatte verkauft oder verschenkt wurde – das bedeutet, meine Musik lebt weiter!

PM: Sehr interessant! Magst Du uns zunächst etwas über Deine „Wurzeln“ erzählen? Ich weiß zum Beispiel, dass Deine musikalische Reise bereits sehr früh begonnen hat.

EE: Ich wuchs in einer akademischen Familie auf. Damals war es fast Pflicht, dass die Kinder entweder ins Ballett gingen oder ein Instrument lernten. Für mich wurde ein Klavier gekauft. Im Februar war ich gerade vier Jahre alt geworden, als meine Mutter mich zu meiner ersten privaten Klavierlehrerin fuhr. Diese meinte allerdings, ich sei noch zu klein und müsse mindestens bis zum Sommer warten. Nach dem Sommer begannen dann meine ersten Klavierstunden – ganz spielerisch. Dennoch sagte meine Klavierlehrerin bald zu meiner Mutter, dass ich über ein absolutes Gehör verfüge und auch andere musikalische Fähigkeiten, wie zum Beispiel ein gutes Rhythmusgefühl, zeige.

Mit sechseinhalb Jahren meldete meine Mutter mich zur Aufnahmeprüfung an der „Republikanischen Speziellen Musikschule“, benannt nach V. Uspenskiy, an – sie ist an die Musikhochschule in Taschkent angegliedert. Ich erinnere mich noch gut daran: Es waren viele kleine Kinder dort, wir mussten verschiedene Gehörbildungsaufgaben machen, Rhythmen klatschen, singen, Instrument spielen … Am Ende wurden die besten aufgenommen.

Nach den Sommerferien startete ich in die erste Klasse – wir waren über 20 Kinder, die alle unterschiedliche Instrumente spielten. Das gesamte Schulsystem war so aufgebaut, dass wir die „normalen“ Fächer wie Mathematik, Geschichte usw., durchmischt mit den musikbezogenen Fächern, hatten. Den Rest des Tages verbrachten wir mit Üben.

PM: Spannend! Geboren in Usbekistan, führte Dich Dein Weg im Jahr 2008 zum Magisterstudium in die Schweiz. Wo siehst Du die größten kulturellen Unterschiede?

EE: Die Schweiz ist ein Land mit sehr hohem Lebensstandard – hier leben einige der reichsten Menschen der Welt. Gleichzeitig ist die Mittelschicht stark ausgeprägt, was eine stabile Grundlage für eine funktionierende Demokratie schafft. Vieles im Alltag basiert auf einem gesunden, realistischen Fundament, das es ermöglicht, das Leben zu genießen – auch ohne Anspruch auf Luxus.

Für jemanden, der aus der ehemaligen Sowjetunion kommt, wirken viele Dinge in der Schweiz beinahe märchenhaft. Man hat auf einmal Sicherheit in der Planung, ein stabiles soziales Netz, das einen in schwierigen Situationen auffängt. Doch genau diese Vorzüge bringen auch ihre Kehrseiten mit sich: Alles ist durchgetaktet, Spontanität hat wenig Platz. Ich musste erst lernen, meine Termine ein halbes Jahr im Voraus zu planen. Mindestens (lacht).

Da die Menschen hier einen hohen Lebensstandard genießen, legen sie großen Wert auf eine ausgeglichene Work-Life-Balance. Um 18 Uhr ist meist Feierabend – und am Sonntag sind alle Geschäfte geschlossen. In Russland leben die Menschen in einem 24/7-Rhythmus – das war anfangs eine große Umstellung für mich.

Die Natur in der Schweiz ist atemberaubend schön und unglaublich vielfältig. Selbst Menschen, die eher bescheiden leben, haben täglich Zugang zu einigen der schönsten Orte der Welt – oft liegen See, Berg, Wald oder Feld nur wenige Gehminuten von zu Hause entfernt. Alles ist sehr kompakt und nah beieinander – das hat viele Vorteile, bringt aber aus meiner Sicht auch gewisse Einschränkungen mit sich, etwa in der Weltanschauung oder im sozialen Umgang mit Familie und Mitmenschen.

Mich persönlich haben diese kulturellen Unterschiede jedoch nie gestört – im Gegenteil: Ich habe sie mit Neugier und Offenheit aufgenommen und schätze sie zum Teil.

PM: Und Deine vielen Erfahrungen haben Dich sicherlich zu einer vielseitigen Musikerin geformt. Welchen Einfluss hat das auf Deine Klavierspieltechnik und was bedeutet das „Musizieren“ für Dich persönlich?

EE: Die Klavierspieltechnik haben mir verschiedene Klavierprofessoren beigebracht. Die Russen und die Schweizer, all ihnen bin ich sehr dankbar. Denn genau die Mischung aus verschiedenen Schulen macht einen flexibel und lernfähig.

PM: Was bedeutet in diesem Zusammenhang die künstlerische Identität und welche Rolle spielt diese für die Karriere von Konzertpianist:innen?

EE: Diese Frage finde ich besonders spannend, denn sie beschreibt genau das Konzept meiner Schallplatte „liminal“. „Liminal“ bedeutet einen Zustand zwischen zwei Welten – einen Schwellenzustand, der Offenheit, Veränderung und Transformation ermöglicht.

Meiner Meinung nach leben Konzertmusiker:innen in einem solchen liminalen Zustand: Wir folgen zwar unserer täglichen Routine, sind gedanklich aber oft tief in unseren Werken. Auch der Moment kurz vor dem Auftritt ist liminal – der Übergang von der Interpretation „nur für sich“ zur Interpretation „für andere“.

Auf der Bühne selbst befinden wir uns ebenfalls in einem liminalen Raum. Wir stehen zwischen dem Komponisten und dem Publikum. Das bedeutet, möglichst treu an der Idee der Komponistin bzw. des Komponisten zu bleiben – soweit diese bekannt oder rekonstruierbar ist – und sie gleichzeitig durch die eigene Perspektive, Erfahrung und innere Welt zu formen. All das muss dann noch mit dem jeweiligen Konzertort und dem Publikum in Einklang gebracht werden.

Keine leichte Aufgabe, die jedes Mal neu gelöst werden muss – und vielleicht macht sie gerade deshalb so süchtig.

PM: In einem unserer Interviews mit einer promovierten Konzertpianistin und Buchautorin haben wir über das Thema „Selbstbewusstsein“ gesprochen. Findest Du nicht, dass ausgerechnet mangelndes Selbstbewusstsein bei vielen jungen Musiker:innen aktuell einen großen Mangel darstellt? Nicht, weil die es nicht wollen oder nicht über diese Charaktereigenschaft verfügen würden. Eher deshalb, weil die aktuelle „Umwelt“ dies ggf. gar nicht zulässt. Irre ich mich?

EE: Ich würde sagen: „Jein.“

Wäre mangelndes Selbstbewusstsein tatsächlich ein flächendeckendes Problem, hätten wir vermutlich deutlich weniger Nachwuchsmusiker:innen – denn dieser berufliche Weg erfordert zweifellos eine große Portion Mut und das ist ohne Selbstbewusstsein nicht möglich. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass es uns an talentiertem Nachwuchs mangelt. Im Gegenteil: Ich finde, die junge Musiker:innengeneration boomt. Viele Wege sind heute wesentlich offener als noch vor fünfzehn Jahren. Dank digitaler Technologien gibt es deutlich mehr Möglichkeiten zur Vernetzung, was gerade zu Beginn einer Karriere eine enorme Unterstützung darstellt. Auch die eigenständige Weiterbildung ist heute viel leichter zugänglich, da so vieles online verfügbar ist. Das ist in unserem Beruf besonders wichtig, denn wir bilden uns im Grunde täglich weiter.

Gleichzeitig gebe ich Dir vollkommen recht, dass unsere heutige Gesellschaft – und das betrifft meiner Meinung nach nicht nur die Musikwelt – vieles, was Natürlichkeit, Talent und Authentizität ausmacht, nur bedingt zulässt. Man muss gewisse „Standards“ erfüllen, um bestimmte Ziele überhaupt erreichen zu können. Und wenn man nicht in dieses Raster passt, bleiben im Wesentlichen zwei Wege. Entweder man arbeitet gezielt daran, sich diesen Vorgaben anzupassen – oder man geht seinen eigenen Weg und hofft, dass dieser trotzdem trägt. Ich denke daher schon, dass genau diese gesellschaftlichen Prägungen für viele junge Menschen eine erhebliche Hürde darstellen können und das Selbstbewusstsein bei vielen aus dem Gleichgewicht bringen.

PM: Danke Dir für Deine Meinung! Du unterrichtest ja Klavier auch selbst. Wie siehst Du die aktuelle Rolle des Lehrers bzw. der Lehrerin in der musikalischen Ausbildung?

EE: Ich empfinde die Rolle der Lehrerin bzw. des Lehrers als einen sehr vielfältigen und flexiblen Mechanismus. Je nach Alter, Entwicklungsstand und Persönlichkeit wende ich unterschiedliche Methoden an und versuche, den Schüler oder die Schülerin dorthin zu führen, wo sich unsere Ziele und Möglichkeiten treffen.

Das schönste Ergebnis ist für mich, wenn genau das gelingt – und der Weg dorthin nicht als lebenslanges Opfer empfunden wird, sondern wenn man die daraus entstehenden Fortschritte mit echter Freude genießen kann. (lacht)

PM: Was würdest Du den jungen Talenten der neuen Generation besonders raten?

EE: Stets offen und neugierig bleiben, viel lesen und recherchieren – nicht nur im musikalischen Umfeld. Soft Skills entwickeln und unbedingt mit dem wachen Kopf üben.

PM: Spielst Du lieber Orchesterkonzerte oder Solo-Recitals?

EE: Beides gleich gerne.

PM: Lass uns bitte kurz über die Vorteile des digitalen Musikmarkts für Künstler:innen sprechen. Streamingdienste und soziale Medien eröffnen ganz neue Möglichkeiten im Bereich Marketing. Sie liefern Statistiken und wichtige Informationen über Fans und Follower:innen. Auf der anderen Seite beanspruchen diese enorm viel Zeit und verlangen zusätzliche Disziplin. Wie stark beeinflussen diese Statistiken denn die eigene Arbeit, wenn man sie regelmäßig überprüft bzw. ständig mit ihnen konfrontiert wird?

EE: Ich denke, es ist – wie so vieles im Leben – eine Frage der Balance. Die Epochen ändern sich, der Lebensrhythmus verändert sich ständig, und unsere Lebensstrategien müssen sich immer wieder anpassen. Früher war der Musiker:innenberuf nur einer erlesenen Gruppe vorbehalten: jenen, die überhaupt studieren und auftreten durften, und jenen, die sich ein Musikerlebnis leisten konnten. Heute hingegen ist Musik für alle zugänglich.

Solche Veränderungen bringen selbstverständlich Vor- und Nachteile mit sich. Und es wird meiner Meinung nach immer drei Gruppen von Menschen geben: diejenigen, die im alten Muster bleiben und den „neuen Trends“ widerstehen; diejenigen, die mutig vorangehen, neue Strategien umsetzen und dadurch große Chancen haben, den Markt zu prägen; und schließlich diejenigen, die sich irgendwo dazwischen bewegen.

Ich selbst befürworte die gesunde Mitte. Mein Hauptziel ist es, Musikerin zu bleiben und mich künstlerisch weiterzuentwickeln – dafür investiere ich den größten Teil meines Lebens. Gleichzeitig bringt es wenig, ausschließlich in den eigenen vier Wänden Musik zu produzieren, denn Musiker:innen sind, im Vergleich zu manchen anderen Kunstrichtungen, die Künstler:innen der Gegenwart. Wir leben davon, Musik vor Publikum spielen zu dürfen. Die Rückmeldungen, die dabei entstehen, nähren uns und lassen uns weiterwachsen.

Darum ist der Umgang mit neuen Medien und Strategien heutzutage unvermeidbar.

PM: Die nächste Frage kann ich mir leider nicht ersparen (lacht). Wie findest Du das PianoMe-Konzept?

EE: Dieses Konzept finde ich aus jeder Perspektive großartig, und ich empfehle die PianoMe Plattform regelmäßig meinen Schüler:innen – besonders denen, die viel unterwegs sind. Auch als Austauschplattform und Netzwerkpool halte ich sie für äußerst spannend. Ich wünsche Euch, nur weiter in dieser Richtung zu wachsen und zu gedeihen!

PM: Vielen Dank Dir! Was sind abschließend Deine Ziele für die Zukunft? Möchtest Du Deine Pläne mit unseren Leser:innen teilen?

EE: Meine Tournee „liminal“ läuft weiter und wird voraussichtlich noch bis Sommer 2026 dauern. Ein wichtiges Ziel ist natürlich, die gesamte Auflage von 400 Schallplatten zu verkaufen – inzwischen ist bereits etwa die Hälfte davon verkauft.

Und danach geht es direkt weiter: Die Planung für die nächste Schallplatte und die dazugehörige Tournee steht schon. Das Konzept des neuen Albums ist äußerst spannend – ich freue mich jetzt schon darauf!

PM: Liebe Eleonora, wir danken Dir für das sehr interessante Gespräch! Wir wünschen Dir alles Gute sowie viel Erfolg mit allem, was Du noch vorhast! Wir bleiben in Kontakt.

EE: Herzlichen Dank für die spannenden Fragen – ich freue mich auf weitere Begegnungen mit Euch! Ich wünsche Euch weiterhin viel Freude und viel Erfolg.


Copyright Foto: @Rainer Spaniel / @Eleonora Em