PianoMe Talks: Interview mit dem Konzertpianisten Antonio Davi

PianoMe Talks: Interview mit dem Konzertpianisten Antonio Davi

In dieser Ausgabe hatten wir die Freude, den Konzertpianisten Antonio Davi als Gesprächspartner zu begrüßen. Er erzählte uns unter anderem von seinem Werk „Metodo Davì per lo studio del Pianoforte – Tecnica e Postura“. Darüber hinaus gab er Einblicke in seine aktuellen Projekte und schilderte, welche Rolle das Musizieren in seinem persönlichen Leben spielt. Außerdem sprachen wir darüber, weshalb er PianoMe für ein besonders wertvolles Angebot hält.


PianoMe (PM): Lieber Antonio, vielen Dank Dir für Deine Zeit! Es ist uns eine große Freude, dass Du zu einem Interview mit PianoMe bereit bist!

Antonio Davi (AD): Sehr gerne, das Vergnügen ist ganz meinerseits.

PM: Das ist toll, danke! Zuerst wollen wir Dich unseren Leser:innen gerne kurz vorstellen, obwohl Dich viele sicherlich bereits kennen. Du bist als Konzertpianist bekannt, der sich mit seiner feinfühligen Musikalität und innovativen Programmen einen Namen gemacht hat. Im Laufe der Jahre hast Du eine doppelte musikalische Identität entwickelt: Einerseits die Liebe zur klassischen Musik und zum traditionellen Repertoire, andererseits die Leidenschaft für Improvisation und moderne Harmonie. Deine starke Ausdruckskraft und Finesse hast Du bereits bei Deinen Recitals unter anderem in Italien, der Schweiz, Deutschland, Frankreich und Russland unter Beweis gestellt. Du sagst, dass Musik eine universelle Sprache sei, und dass in einer Zeit, in der Völker durch Konflikte getrennt sind, man viel mehr Musik machen solle. Das spricht doch für sich…

AD: (lacht) Meine „doppelte Persönlichkeit“ entstand aus einem tiefen „inneren Bedürfnis“: der Entdeckungslust, der Neugier, die Starrheit der Partitur zu verarbeiten und zu überwinden – etwas, das mir im akademischen Umfeld des Konservatoriums verwehrt war. Heute ist diese Spannung zwischen klassischer Strenge und kreativer Freiheit kein Konflikt mehr, sondern das „stilistische Markenzeichen“ meines Ansatzes: Es ist mein Weg, die Musik immer lebendig und aktuell zu halten und Genregrenzen zu überschreiten.

PM: Sehr interessant! Magst Du uns zunächst etwas über Deine „Wurzeln“ erzählen? Wann stand für Dich fest, dass Du Pianist werden willst?

AD: Meine erste Begegnung mit dem Klavier war eine echte „Erleuchtung, an einem warmen Nachmittag im Jahr 1989 in Palermo. Ich fand in einem Raum ein unbenutztes aufrechtes Klavier; der Tastenbrettdeckel war offen, und diese weißen und schwarzen Tasten faszinierten mich sofort. Ich verbrachte den ganzen Tag damit, sie zu berühren, wenn auch wahllos, war aber von diesem Klang gefesselt. Am Abend gab mir mein Vater die erste Stunde und brachte mir die Noten bei, während ich auf seinem Schoß saß.

Die endgültige Entscheidung, das Klavier zu meinem Leben zu machen, kam jedoch zu einem Zeitpunkt der beruflichen Bestätigung: nach der Prüfung zum fünften Jahr am Konservatorium in Palermo. Ich spielte das gesamte Programm auswendig und erhielt die „Note 10 mit Auszeichnung und den Kuss der Kommission“. Das war die Bestätigung meiner Bestimmung.

PM: Spannend! Das Spielen in verschiedenen Ländern hat es Dir sicherlich ermöglicht, in lokale Musikkulturen einzutauchen und mit der Zeit verschiedene Einflüsse und Sensibilitäten zu sammeln. Wo siehst Du die größten musikalischen kulturellen Unterschiede zwischen Italien, der Schweiz, und Deutschland?

AD: Es gibt unbestreitbar viele kulturelle und didaktische Unterschiede zwischen den Ländern, aber etwas, das ich in all den Jahren meiner Karriere erlebt habe, hat mich von etwas Grundlegendem überzeugt: Musik ist eine universelle Sprache, die Völker verbindet. Ich halte sie für die einzige Kunstform mit der inhärenten Kraft, Konflikte zu überwinden und die Welt zu einem friedlicheren und schöneren Ort zu machen.

Ich erinnere mich an das Jahr, als ich in Moskau spielte: Nach dem Konzert bat ich den Veranstalter, eine Jam-Session zu finden, um mit russischen Musiker:innen zu spielen. Es war ein unvergesslicher Abend; es schien, als würden wir uns schon ewig kennen. Das ist die Magie der Musik: Zwei Menschen, die nicht dieselbe gesprochene Sprache teilen, kommunizieren perfekt durch die universelle Sprache der Harmonie.

PM: Sehr interessant! Deine vielen Erfahrungen haben Dich sicherlich zu einem vielseitigen Musiker geformt. Welchen Einfluss hat das auf Deine Klavierspieltechnik und was bedeutet das „Musizieren“ für Dich persönlich?

AD: Vom Musikleben zu leben und damit zu arbeiten, ist eine echte „Lebensphilosophie“, ein Leben, das große Ausdauer erfordert. Stell Dir vor, Du stehst jeden Tag unter Beobachtung. Der Geist darf sich niemals nur auf einen Stil konzentrieren. Für mich bedeutet „Musizieren“, sich ständig in jedem Aspekt zu verbessern – technisch, theoretisch und praktisch – und vor allem „zu erfinden“. Manchmal sind Instinkt und Ausdrucksfreiheit viel mehr wert als 200 Stunden Tonleitern oder Arpeggien. Es bedeutet auch, ein Stück „neu zu lesen“, um das zu entdecken, was Dir beim vorherigen Studium und der Aufführung entgangen ist.

PM: Um die Klavierspieltechnik geht es auch in Deinem Buch „Metodo Davì per lo studio del Pianoforte ‒ Tecnica e Postura“, das einen körperlichen und schrittweisen Ansatz für die Klaviertechnik vorschlägt. Wie ist dieses Buch entstanden und warum ausgerechnet dieser Vorschlag?

AD: Die „Metodo Davì“ entstand als Reaktion auf den großen didaktischen Schaden“, den ich während der Pandemie im Netz sah, mit irreführenden Versprechen, ein Lied in drei Tagen zu lernen. Diese Oberflächlichkeit schockierte mich. Ich fühlte mich verpflichtet, einzugreifen und Live-Streams zu machen, um diese Kurse, die ich als falsch und lediglich als Geldmacherei bezeichne, zu widerlegen. Ich habe das Buch ins Leben gerufen, weil ich fest an einem Prinzip festhalte: die „Haltung“ und die „korrekte Position“ sind die Basis, und diese Basis ist wissenschaftlich universell für jede:n, von der Anfängerin bzw. vom Anfänger bis zur großen Konzertpianistin bzw. Konzertpianisten. Es fehlen online zwei grundlegende Elemente: 1) die kompetente Lehrerin bzw. der kompetente Lehrer, und 2) die Person, die mit intellektueller Ehrlichkeit die Wahrheit sagt. Die Wahrheit ist: Bevor man sich an einem Mozart-Stück erfreuen kann, muss man die Basis aufbauen. Mindestens drei Monate lang wird Solfeggio und Haltungstechnik geübt; das Stück X steht außer Frage.

PM: Was bedeutet in diesem Zusammenhang die künstlerische Identität und welche Rolle spielt diese für die Karriere von Konzertpianist:innen?

AD: Die künstlerische Identität ist heute entscheidender denn je. Sie ist das, was die Künstlerin bzw. den Künstler von einer Maschine unterscheidet. Sie ist die DNA der musikalischen Interpretation. Meine Identität liegt in der Synthese meiner klassischen Ausbildung – der Strenge des Konservatoriums – und meiner tiefen Liebe zur Improvisation. Für eine:n Konzertpianist:in bedeutet es, eine eigene Lesart der Partitur zu haben, die auf dem Repertoire basiert, aber das Publikum mit einer persönlichen emotionalen Tiefe erreicht. Ohne eine klare Identität ist man nur ein:e gute:r Reproduzent:in.

PM: Das hört sich sehr spannend an! Was war der eigentliche Beginn Deiner Komponistentätigkeit?

AD: Meine Kompositionstätigkeit begann mit 17 Jahren mit dem Stück „Palermo dormi“. Ich schrieb das Stück mit einem bestimmten Bild im Kopf: Palermo bei Nacht, von der Rocca di Monreale aus gesehen, ein wahres Schauspiel. Obwohl es heute einem Einaudi-Stil zugeordnet werden könnte, hat es eine etwas technischere Struktur. Parallel dazu begann ich mit 17 Jahren das Kompositionsstudium und schrieb Musik für Pop-/Latin-Bands und Theatergruppen.

PM: Sehr interessant! Deine Werke verbinden meines Erachtens klassische Elemente mit Elementen moderner Musikrichtungen. Ist das ein Versuch, eine Brücke zwischen künstlerischer Handwerkskunst und allgemeiner Zugänglichkeit herzustellen?

AD: Absolut. Das ist der Kern meiner Mission. Klassische Musik darf keine aussterbende Kunst sein, die in Konzertsälen eingesperrt ist. Ich sehe mich als Brückenbauer. Durch das Verweben von harmonischen Elementen aus Funk, Jazz oder Pop in klassische Strukturen – wie in meiner Neubearbeitung von Bach im Funk-Stil – mache ich das Repertoire einem breiteren und modernen Publikum zugänglich. Es geht darum, zu zeigen, dass die „Handwerkskunst“ der großen Meister:innen zeitlos ist und sich ständig neu erfinden kann, ohne ihre Essenz zu verlieren.

PM: Wo wir schon über das Komponieren sprechen, was ist Dir wichtiger: perfekt zu spielen oder die Zuhörer:innen zu berühren?

AD: Es ist absolut entscheidend, die Zuhörer:innen zu berühren. Ich ziehe einige fehlerhafte Noten, die aber „mit dem Herzen“ gespielt werden, bei Weitem einer mechanischen, kalten Darbietung vor, wie sie heutzutage als Künstliche Intelligenz bezeichnet werden könnte. Die Emotion und die Menschlichkeit der Botschaft sind unsere wahre, unersetzliche Stärke.

PM: Und hast Du einen Lieblingsort zum Musizieren? Was beeinflusst Dich bei Deiner künstlerischen Tätigkeit?

AD: Mein bevorzugtes „Labor“ ist mein Flügel in meinem Studio in Mesenzana, in der Nähe des Lago Maggiore. Dort fühle ich mich geerdet und kann die Stille nutzen, um mich zu konzentrieren. Aber der wichtigste Ort ist das Instrument selbst, wo auch immer es steht. Der größte Einfluss auf meine künstlerische Tätigkeit kommt jedoch nicht nur aus der Musik, sondern aus dem Leben selbst. Die Interaktion mit meiner Familie, die Natur, die ich hier in der Region Varese erlebe, und vor allem die menschliche Verbindung – das sind die Dinge, die die wahre Emotion in meinen Interpretationen wecken und mich inspirieren.

PM: Was würdest Du den jungen Talenten der neuen Generation besonders raten?

AD: Den jungen Talenten rate ich, ein Instrument „ernsthaft zu lieben“, ohne dass sie dazu gezwungen werden. Wenn sie es zum ersten Mal berühren, müssen sie ihren beschleunigten Herzschlag spüren: Das Herz leitet Dich, das Herz zeigt Dir den Weg. Aber das allein reicht nicht, denn um Spaß an der Musik zu haben, braucht es viel Übung, und das ist die wahre Leidenschaft. Du musst zuerst Dir selbst beweisen, dass die getroffene Wahl die richtige ist. Die Technologie von heute – die ich sehr mag, da ich während der Pandemie Software wie Sibelius und Studio One studiert habe – sollte eine „Hilfe“ sein. Die jungen Leute müssen mehr „miteinander in Kontakt“ stehen. Dann kehrt das Schöne des Zusammenseins, des Musikteilens, des Redens, des in die Augen Schauens und des Berührtwerdens zurück. Leider hat die Technologie ihnen das genommen, was ich in meiner Ära erlebt habe.

PM: Die nächste Frage kann ich mir leider nicht ersparen (lacht). Wie findest Du das PianoMe-Konzept?

AD: Ich bin davon überzeugt, dass es ein brillantes und vor allem „notwendiges“ Konzept ist. Für einen Konzertpianisten wie mich, der reist und die Notwendigkeit hat, ein hohes technisches Niveau zu halten, ist es essenziell, eine Plattform zu haben, die es ermöglicht, qualitativ hochwertige Übungsräume in verschiedenen Städten zu finden. Aber es ist nicht nur eine praktische Frage; PianoMe verkörpert den Grundsatz, den ich ausgedrückt habe: „Musik ist eine universelle Sprache“. Diese Plattform schafft ein echtes Netzwerk, das Musiker:innen vereint und ihnen erlaubt, denselben Ort und dasselbe Instrument zu teilen. Es ist ein perfektes Beispiel dafür, wie Technologie eine „Hilfe“ für das Teilen und die Emotion sein sollte, indem sie die Menschen wieder mit dem physischen Akt des Musizierens verbindet.

PM: Vielen Dank Dir! Was sind abschließend Deine Ziele für die Zukunft? Möchtest Du Deine Pläne mit unseren Leser:innen teilen?

AD: Im Moment arbeite ich an meiner Orchestersuite mit dem Titel „Frammenti di Vita“. Ich möchte sie bei einigen Filmfestivals präsentieren und Regisseur:innen für Kurzfilme vorschlagen. Darüber hinaus setze ich meine Arrangements klassischer Musik im modernen Stil fort, etwa das Präludium aus der Englischen Suite Nr. 2 in a-Moll von Bach im Funk-Stil. Ein weiteres großes Projekt in Arbeit ist das Album „Vi racconto il pianoforte“ mit ausschließlich unveröffentlichten Stücken.

PM: Lieber Antonio, wir danken Dir für das sehr interessante Gespräch! Wir wünschen Dir alles Gute sowie viel Erfolg mit allem, was Du noch vorhast! Wir bleiben in Kontakt.

AD: Ich bedanke mich ebenfalls für das angenehme und tiefgründige Gespräch. Ich wünsche Euch alles Gute!


Copyright Foto: @ Antonio Davi