PianoMe Talks: Interview mit der Konzertpianistin Susanne Kessel

Interview mit der Konzertpianistin Susanne Kessel

Dieses Mal hatten wir das Vergnügen, die Konzertpianistin Susanne Kessel für ein Interview zu gewinnen. Im Gespräch erzählte Susanne unter anderem, welche Bedeutung das „250 piano pieces for Beethoven“-Projekt für sie hat. Wir sprachen auch über ihre aktuellen Projekte und darüber, was „Musizieren“ für sie persönlich bedeutet.


PianoMe (PM): Liebe Susanne, vielen Dank Dir für Deine Zeit! Es ist uns eine große Freude, dass Du zu einem Interview mit PianoMe bereit bist!

Susanne Kessel (SK): ­Das kann ich nur zurückgeben. Vielen Dank für Euer Interesse an meiner Arbeit!

PM: Vorstellen müssen wir Dich unseren Leser:innen nicht mehr. Als Solistin gastierst Du bei zahlreichen Festivals. Deine Offenheit und Vielseitigkeit im Umgang mit klassischer und zeitgenössischer Klavierliteratur hast Du bereits bei mehreren Filmprojekten unter Beweis gestellt. Neben Deiner Tätigkeit als Konzertpianistin leitest Du eine private Klavierklasse in Bonn und bist Jurymitglied verschiedener Musikwettbewerbe. Fast ganz nebenbei warst Du über die Jahre Organisatorin und Herausgeberin des „250 piano pieces for Beethoven“ Projektes. Zahlreichen Zeitungsberichten konnten wir viel Lob für Dich entnehmen. Deine über 30 CDs sprechen auch für sich…

SK: (lacht) Ja, im Lauf der Jahre wurden es immer mehr Bereiche, in denen ich arbeite. Pianistin und Klavierpädagogik habe ich studiert, aber mittlerweile bin ich auch Projektmanagerin, Veranstalterin, Herausgeberin, und ich habe ein CD-Label. All diese Tätigkeiten entspringen aber demselben Kern, um den sie sich drehen: Musik! Ich möchte meine musikalische Begabung einfach überall dort einbringen, wo ich musikalisch etwas gestalten kann.

PM: Sehr interessant! Magst Du uns zunächst etwas über Deine „Wurzeln“ erzählen? Ich weiß zum Beispiel, dass Dein Klavierspiel bereits früh von großen Musiker:innen-Persönlichkeiten geprägt und gefördert wurde.

SK: Ich hatte das große Glück, in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn aufzuwachsen, mit einem sehr hochstehenden, internationalen Konzertleben und einer hervorragenden städtischen Musikschule. Für meine Eltern spielte die klassische Musik, aber auch jede andere Musik und vor allem die stilistische Bandbreite eine große Rolle. Einige meiner Vorfahren haben im Bonner Raum Musikvereine gegründet, waren europaweit konzertierende Solist:innen oder Sänger:innen in der Bonner Oper. Ich selbst wurde früh von Aloys Kontarsky unterrichtet, nahm an Kursen von Peter Feuchtwanger und Karlheinz Kämmerling teil. Ich habe dann bei Pi-hsien Chen an der MHS Köln studiert und durfte ihren reichen klassischen und zeitgenössischen Horizont erleben. Ich wurde klassisch ausgebildet, habe aber auch sehr früh bereits mit Komponist:innen zusammengearbeitet. Als Kind und Jugendliche habe ich Uraufführungen zeitgenössischer Kompositionen in Konzerten spielen dürfen. Ich besuchte mit meinen Eltern Konzerte mit klassischer, aber oft auch mit zeitgenössischer Musik. Wie ich heute weiß, hat nicht jede/r Musiker:in schon als Kind das Glück, die verschiedenen Stilrichtungen der klassischen und Neuen Musik so ohne Vorbehalte erleben zu dürfen. Die vielen verschiedenen Musiker:innen, die ich bereits früh kennenlernen durfte, haben mein Verhältnis zur Musik entscheidend geprägt.

PM: Spannend! Diese vielen Erfahrungen haben Dich sicherlich zu einer vielseitigen Musikerin geformt. Welchen Einfluss hat das auf Deine Klavierspieltechnik und was bedeutet das „Musizieren“ für Dich persönlich?

SK: Jede Epoche und jede/r Komponist:in fordert im Grunde genommen eine ganz eigene Spieltechnik und eine dem jeweiligen Werk entsprechende innere Haltung. Viel entscheidender als eine einheitliche Klavierspieltechnik ist aus meiner Sicht die Fähigkeit, sich im Inneren verschiedene Klangfarben und Artikulationen vorstellen zu können und dann in der Lage zu sein, diese am Klavier hervorzurufen. Also aus einem „inneren Instrument“ heraus das Klavier zu spielen. Musizieren bedeutet für mich eine Kommunikation zwischen meiner eigenen Innenwelt und dem äußeren Klang eines musikalischen Werkes, der über das Ohr zu mir zurückkehrt und einen sinnlichen Zustand erzeugt, den man eben nur beim Musizieren erleben kann. Es entsteht ein Dialog zwischen mir und dem Werk. So ähnlich ist es sicherlich bei jedem/jeder Musiker:in und darum ist es ja auch so spannend, anderen zuzuhören, deren Innenwelt mitzuhören und zu bestaunen. 

PM: Was bedeutet in diesem Zusammenhang die künstlerische Identität und welche Rolle spielt diese für die Karriere bei Konzertpianist:innen?

SK: Es gibt viele Musiker:innen, die faszinierende neue Blickwinkel und Maßstäbe setzen und ihr Publikum manchmal sogar über mehrere Generationen hinweg lang tief inspirieren, sei es in der Interpretation oder in der Literaturauswahl. Und es gibt stets auch die Konservativeren. Für alle ist aber ja offenbar Platz im Konzertleben! Das Publikum ist zurecht besonders von Künstlerpersönlichkeiten fasziniert, die ihre Persönlichkeit in starkem Maße in Musik auszudrücken in der Lage sind. Ein ausgeprägter Wille für eine Karriere ist entscheidend, denke ich. Die Bereitschaft, sich einer Karriere sozusagen „auszusetzen“.

PM: Denkst Du nicht, dass ausgerechnet all das bei vielen Musiker:innen aktuell zu kurz kommt? Nicht, weil die es nicht wollen. Eher deshalb, weil die aktuelle „Umwelt“ dies ggf. gar nicht zulässt: Permanenter Stress, schwierige Arbeitsbedingungen, stetiger Durchsetzungskampf, Berufsdruck, nicht zuletzt aber auch die anhaltende Wirkung der Corona-Pandemie. Irre ich mich?

SK: Die „Umwelt“ wird es immer geben und die kann man schwer verändern. Ich bin der Meinung, dass jede/r Musiker:in selbst entscheidet, wie er oder sie leben und arbeiten möchte. Und gerade als Künstler:in sollte man sein eigenes Wirkungsfeld mit Bedacht wählen, sodass die künstlerische Persönlichkeit keinen Schaden nimmt.

PM: Du unterrichtest ja das Klavier auch selbst. Wie siehst Du die aktuelle Rolle des/der Lehrers/Lehrerin in der musikalischen Ausbildung?

SK: Das ist schwer, in ein paar wenige Sätze zu fassen. Als Klavierlehrerin sehe ich meine Rolle darin, sowohl kompetente Anleitung zu geben als auch als ausübende Musikerin Vorbild zu sein. Das Klavierspiel sollte für Schüler:innen jederzeit eine große Freude und ein höchst kreativer Prozess sein, der auch angstfrei mit Zuhörer:innen geteilt werden darf. Das verstehe ich unter lebendiger Musikkultur.

PM: Sehr interessant! Lass uns nun über Deine Sonderaktivitäten sprechen und mit Deinem Projekt „250 piano pieces for Beethoven“ anfangen. Wie kam es zu diesem Projekt?

SK: „250 piano pieces for Beethoven“ ist ein sehr persönliches Geburtstagsgeschenk an Ludwig van Beethoven. Im Jahr 2013, also sieben Jahre vor Beethovens 250. Geburtstag, fragte ich mich, über welches Geschenk sich Beethoven möglicherweise am meisten freuen würde und von dem heute und in Zukunft lebende Pianist:innen und Musikbegeisterte ebenfalls profitieren könnten. Die Idee kam mir dann sehr konkret und ließ mich nicht los. Ich begann sofort damit, 250 Komponist:innen aus 47 Ländern in Form persönlicher Kompositionsaufträge einzuladen, Klavierstücke zu komponieren, die sich auf Beethoven beziehen; auf seine Musik oder auf seine Persönlichkeit, seine Taubheit u.v.m. Im Lauf der sieben Jahre komponierten tatsächlich alle Eingeladenen ein Klavierstück, das ich jeweils einstudierte und in Bonn in über 200 Klavierabenden uraufführte. Alle Stücke sind in einer 10-bändigen Notenedition erschienen und sehr viele der Stücke habe ich im Studio auf vier Doppel-CDs aufgenommen.
Entstanden ist eine Werksammlung unterschiedlichster Stilrichtungen und persönlicher Näherung der Komponist:innen an Beethoven. Fantastische Stücke sind darunter, die die nächsten Jahrhunderte überdauern werden. Ein Zeichen, von welch zentraler Bedeutung Beethoven für die Komponist:innen unserer Zeit immer noch ist.

PM: Das Projekt ist Dir definitiv gelungen! Außerdem hast Du mit diesem Projekt noch einmal sehr bemerkenswert Deine eigene Vielfalt unterstrichen. Ich persönlich finde das Projekt einfach klasse! Ich würde jetzt gerne aber ganz kurz das Thema wechseln. Mich würde auch interessieren, was Du denkst, woran es liegt, dass der Anteil der bekannten Komponist:innen eigentlich sehr gering ist? Das betrifft ja nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart und es hat sich ja bereits einiges verändert.

SK: Komponist:innen der barocken, klassischen und romantischen Epochen wurden „Opfer“ der damaligen Rolle der Frau in der Öffentlichkeit. Bemerkenswert finde ich, dass es große Komponist:innen gab, die zu Lebzeiten maßgeblich das öffentliche Musikleben mitgestalteten und die durchaus als Künstler:innen gesellschaftlich allseits anerkannt waren, deren Werke aber nach ihrem Tod kaum eine Rolle mehr spielten. Der Verwaltung ihres Werkes nahm sich also offenbar niemand an und sie wurden lange Zeit vergessen. Heute werden sie wiederentdeckt und man ist häufig schockiert, wie selbstverständlich die Musikwelt dieses Vergessen hingenommen hat. Im zeitgenössischen Musikleben fällt mir, ehrlich gesagt, kein Unterschied mehr auf. Die Komponist:innen sind aus meiner Sicht gleichberechtigt vertreten. Ich hoffe, ich irre mich nicht mit dieser Einschätzung?

PM: Du bist u.a. Jurymitglied verschiedener Musikwettbewerbe. Wie siehst Du die jungen Talente der neuen Generation, und was würdest Du ihnen besonders raten?

SK: Ich würde jungen Künstler:innen raten, sich immer wieder aufs Neue zu fragen, wie sie ihre Rolle und Verantwortung im aktuellen Musikbetrieb sehen. Und diesen persönlichen Weg dann mit Freude und Nachdruck zu gehen. Wer einen Wettbewerb gewinnt, wird im Anschluss meist mit einer Vielzahl an Konzertangeboten konfrontiert. Das ist wunderbar! Das sind dann aber die Gelegenheiten, in denen sich junge Musiker:innen unbedingt bewusst sein sollten, mit welcher Art Literatur sie sich auf diesen Weg machen und womit sie bekannt werden möchten. Künstlerische Unabhängigkeit erfordert oft Überzeugungskraft gegenüber Veranstalter:innen und Agent:innen, ist aber unabdingbar für eine Karriere.

PM: Danke Dir! Zurück zu Deinem 250 piano pieces for BeethovenProjekt: 250 Komponist:innen hast Du im Rahmen Deines Projektes zusammengebracht. Die Künstlerauswahl war sehr vielfältig. Sogar Komponist:innen aus den Bereichen Jazz und Pop waren dabei. Wo war denn da der rote Faden?

SK: Der rote Faden ist die Vielfalt unserer heutigen internationalen Musikkultur. Komponist:innen zahlreicher Genres (Neue Musik, Jazz, Pop, Musiktheater, Punk.. ) richteten ihren Blick auf Ludwig van Beethoven und komponierten ein Klavierstück in ihrer eigenen Klangsprache – mit Bezug auf Beethoven. Auf diese Weise ist eine sehr vielseitige Werksammlung entstanden, die ein Abbild der großen stilistischen Bandbreite der Musik unserer Zeit darstellt.

PM: Die Uraufführungen all dieser sehr unterschiedlichen Stücke hast Du selbst gemacht.  Worin genau lag da die Herausforderung für Dich als Pianistin?

SK: Das Einstudieren so vieler so unterschiedlicher Werke war das bisher größte Abenteuer meines Lebens. Allein die Spannung, wenn wieder eine E-Mail einging mit dem nächsten Stück war einfach großartig! Es war ja gewissermaßen so, dass ich jedes einzelne dieser neuen, wunderbaren Stücke „stellvertretend für Beethoven“ in Empfang nehmen durfte und als erste Pianistin sehen und spielen durfte. Es ist immer eine besonders intensive Arbeit, sich einem Werk zu nähern, das noch nie jemand vorher gespielt hat. Wir sprechen von 250 Werken und insgesamt ca. 18 Stunden Spielzeit – ein riesengroßes Werk-Kompendium, das ich einüben musste! Viele der Stücke sind sehr virtuos und benötigten viel Übungszeit. Natürlich gab es auch Stücke, die mich persönlich nicht so ansprachen, aber auch diese habe ich mit Akribie einstudiert, denn ich war ja hier eine Pianistin, die sich in den Dienst der Komponist:innen stellt. Da ging es an keiner Stelle um meinen persönlichen Geschmack! Auch das war eine krasse Erfahrung für mich. Diese acht Jahre waren dadurch wie eine sehr intensive zusätzliche Ausbildungszeit für mich als Pianistin! Jede Komponistin und jeder Komponist schreibt in seiner eigenen Klangsprache und Stilistik und bei Werken von 250 Komponist:innen handelt es sich um 250 unterschiedliche künstlerische Welten. Natürlich wollte ich jedem Stück gerecht werden und habe daher mit allen 250 Komponist:innen an ihren Werken gearbeitet. Live oder über Video-Call. Weit über 150 Komponist:innen sind zu meinen Konzerten nach Bonn angereist, um ihre Uraufführungen live mitzuerleben. Das war eine große Ehre für mich und für uns alle.

PM: Was beeinflusst Dich in Deiner künstlerischen Tätigkeit?

SK: Ich werde sehr stark von „Zufällen“ inspiriert und entwickle schnell neue Ideen, wenn ich etwas Interessantes höre oder mich etwas Neues bewegt. Gelernt habe ich diese Liebe zum Zufall sicher von meiner langjährigen Beschäftigung mit John Cage. Ich bin seit 2023 Veranstalterin der neuen Konzertreihe mit einem von mir erdachten, ganz neuen Konzertkonzept: „Beethoven Piano Club“ im Bonner Pantheon-Theater. Jeweils 6-10 Pianist:innen spielen nacheinander solistisch ein gemeinsames Konzert. Die Pianist:innen reagieren im Konzert musikalisch aufeinander. Die programmatischen Konstellationen, die sich dadurch ergeben, sind sehr inspirierend und oft verblüffend.

PM: Danke Dir! Die nächste Frage kann ich mir leider nicht ersparen (lacht). Wie findest Du das PianoMe-Konzept?

SK: Eine wunderbare Idee und höchst pragmatische Umsetzung, zu der ich nur gratulieren kann! Es ist ein Life-Changer, wenn man auf Reisen unkompliziert einen geeigneten Übungsraum finden kann.

PM: Was sind abschließend Deine Ziele für die Zukunft? Möchtest Du Deine Pläne mit unseren Leser:innen teilen?

SK: Ich habe gerade mit einem neuen Kompositionsprojekt begonnen: „Freiheit!“ ist der Titel. Diesmal ist es ein Projekt zu Ehren Beethovens 200. Todestages. Es dreht sich alles um den Begriff der Freiheit, der in Beethovens Musik und in seinem von der Zeit der Aufklärung geprägten Leben ein zentraler Begriff war. Die von mir eingeladenen Komponist:innen schreiben kurze Klavierstücke darüber, was sie ganz persönlich unter dem Begriff „Freiheit“ verstehen. Es sind schon großartige Beiträge eingegangen! Die Werke werden im Notenverlag Editions Musica Ferrum veröffentlicht. Es wird also im Lauf der nächsten Jahre eine Sammlung von Werken entstehen, die zu Diskussionen über den Begriff der „Freiheit“ anregen sollen. Auch in unserer Zeit ein Begriff von enormer Bedeutung!

PM: Liebe Susanne, wir danken Dir für das sehr interessante Gespräch! Wir wünschen Dir alles Gute sowie viel Erfolg mit allem, was Du noch vorhast! Wir bleiben in Kontakt.

SK: Vielen herzlichen Dank!


Copyright Bild: David Kremser