PianoMe Talks: Interview mit Antje Valentin zum Thema „Wie steht es um die Kulturbranche in Deutschland heute?“

Interview mit Antje Valentin

Deutschland wird oft als Kulturnation betrachtet und rühmt sich einer langen, reichen Tradition im Bereich der Kunst und Kultur. Von der klassischen Musik, geprägt durch Komponisten wie Bach, Beethoven und Brahms, bis hin zur Literatur von Goethe und Schiller – deutsche Kultur hat viele Impulse gesetzt, die weltweit gewürdigt werden.

Die kulturelle Identität Deutschlands ist geprägt durch ein vielfältiges Netzwerk von Theatern, Opernhäusern, Museen und Festivals, die das Land zu einem wichtigen Ort für künstlerische und intellektuelle Auseinandersetzungen machen. Diese „Kulturnation“-Idee ist tief in der deutschen Geschichte verwurzelt.

Die Bedeutung, die Deutschland der Kultur beimisst, ist auch ein zentraler Bestandteil seiner Identität, und die Rolle der Kultur als integrativer und bildender Faktor wird hochgehalten. Der Begriff „Kulturnation“ ist daher nicht nur nostalgisch geprägt, sondern verweist auf ein Verständnis von Kultur als gesellschaftlichem Gut, dass auch in Zukunft eine prägende Rolle spielen soll.

Allerdings steht die Kulturbranche in Deutschland heute vor einer Reihe bedeutender Herausforderungen, die sich in den letzten Jahren durch soziale, wirtschaftliche und strukturelle Veränderungen noch verschärft haben. So sind die Anschuldigungen bezüglich Machtmissbrauches in der Kulturbranche nicht neu. Das gleiche betrifft die Tatsache, dass viele Kulturschaffende unter permanentem Druck leben, während sie um die begrenzt verfügbaren Arbeitsplätze und Aufträge kämpfen und oft nicht einmal den Mindestlohn verdienen. Hinzukommt, dass selbständig tätige Kulturschaffenden mit der Altersarmut sowie mangelnder sozialen Absicherung konfrontiert sind.

Das Thema mangelnde Infrastruktur ist ebenfalls nicht neu. Überall in Deutschland fehlen Proberäume. Strukturelle Hürden für Diversität und Inklusion, sowie Digitalisierung und der Wandel des Konsumverhaltens tragen dazu bei, dass die Kulturschaffenden mit zusätzlichen Hürden konfrontiert sind. Bürokratie und regulatorische Hürden erleichtern ebenfalls nicht gerade den Alltag. Das Herrenberg-Urteil sowie das Jahressteuergesetz 2024 bzw. die Umsatzsteuerproblematik sorgten alleine in diesem Jahr für sehr viel Unruhe.

Die zahlreichen investigativen Recherchen, Umfragen und laufenden Prozesse zeigen bereits die missliche Lage der Kulturschaffenden in Deutschland und einen erkennbaren Handlungsdruck.

Doch stimmt unser Eindruck? Wir hatten das Glück, Antje Valentin für ein Interview zu gewinnen, um Einblicke in dieses Thema zu erhalten. Als Generalsekretärin des Deutschen Musikrats und ehemalige Direktorin der Landesmusikakademie NRW bringt sie eine Fülle von Erfahrungen und Fachwissen mit. Ihre Perspektiven und Empfehlungen zu diesem Thema sind daher von unschätzbarem Wert. Lest selbst, was Antje zu sagen hat und welche Handlungsempfehlungen sie ausspricht.


PianoMe (PM): Liebe Antje, vielen Dank Dir für Deine Zeit! Es ist uns eine große Freude, dass Du zu einem Interview mit PianoMe zu so einem wichtigen Thema bereit bist!

Antje Valentin (AV): Sehr gerne!

PM: Danke Dir! Vorstellen müssen wir Dich nicht (lacht). Stattdessen würde ich vorschlagen, dass wir direkt zu unserem heutigen Thema übergehen. Dieses wurde absichtlich so gewählt. Bereits vor Corona herrschten einige Missstände, wenn ich das so nennen darf. In der aktuellen Pressemitteilung des Deutschen Musikrats vom 27. November 2024 heißt es: „Angesichts der schwieriger werdenden Rahmenbedingungen im Musikleben wird die nächste Bundesregierung in besonderem Maße in der Verantwortung stehen, auch eine gute Kultur- und Musikpolitik zu gestalten.“1 Nun die zugegeben etwas provokante Frage: Wie schwierig sind die Rahmenbedingungen der Kulturschaffenden in Deutschland wirklich?  

AV: Eine gute Frage, die sich nicht pauschal beantworten lässt. Denn aufgrund unserer föderalen Struktur ist die Vielfalt groß. Im Wesentlichen für die Kulturförderung zuständig sind ja die Städte, Landkreise und Länder, nicht so sehr der Bund. Also können wir nicht wie in Frankreich zentral steuern, sondern leben Vielfalt – und das begrüße ich sehr. Doch auch die Herausforderungen für Kulturschaffende sind daher vielfältig: In der Corona-Zeit wurde offenkundig, wie prekär insbesondere soloselbständige Künstler:innen leben. Dieser Bewusstseinsprozess war heilsam, Hilfsprogramme wurden aufgelegt, sowohl in einigen Bundesländern als auch vom Bund durch NEUSTART KULTUR. Unsere Kolleg:innen von der Projektgesellschaft des DMR konnten so durch die enorm hohen Summen, die in diesen Programmen ermöglicht wurden, zahlreichen Künstlerinnen und Künstlern helfen. Dass diese Summen in dieser Höhe von Seiten der öffentlichen Hand nicht weiter fließen können, ist allen klar. Allerdings war der Absturz sehr tief, denn Inflation, Energiepreissteigerungen und geringer werdende öffentliche Töpfe und somit auch geringere Kulturförderungen bilden jetzt einen krassen Gegensatz zu den scheinbar unerschöpflichen Mitteln aus der Corona-Zeit. Von Ferne betrachtet haben wir allerdings in Deutschland nach wie vor ein weltweit einmaliges System der Kultur- und Künstlerförderung. Auch die Künstlersozialkasse, die es in der Form nirgendwo sonst gibt, ist ein wichtiger Grundpfeiler dieses Systems. Also: Die Rahmenbedingungen werden im Moment schwieriger, da die öffentlichen Kassen leerer sind und allem Anschein nach noch leerer werden und die Menschen sparen müssen, um über die Runden zu kommen. Ich hoffe, dass bei den Politikerinnen und Politikern, die wir jetzt wählen können, Bewusstsein über den Wert und die Bedeutung von Kunst und Kultur vorhanden ist.

PM: Sehr interessant! Es kommt mir aus meinen Gesprächen mit den Kulturschaffenden so vor, dass gerade die jungen Künstler:innen es am schwersten haben, und auch am schlechtesten behandelt werden. Stimmt mein Eindruck?

AV: Das kann ich so nicht bestätigen, denn wir haben ja enorm viele Förderprogramme, Wettbewerbe und Möglichkeiten, nicht zuletzt in den Projekten des Deutschen Musikrats. Allerdings gibt es auch sehr viele junge Künstlerinnen und Künstler, nicht nur aus Deutschland. Das bedeutet harte Konkurrenz. Und wenn dann alle den gleichen klassischen Kanon als Musikerinnen und Musiker im Programm haben, wird es umso härter. Insofern kann ich nur dafür plädieren, dass Nachwuchs-Musiker:innen sich ihrer jeweiligen Einmaligkeit bewusst werden und an eigenen, unverwechselbaren Profilen arbeiten. Das halte ich für enorm wichtig, um nicht in der Masse der hervorragenden Leistungen unterzugehen.

PM: Noch eine etwas provokante Frage, bevor wir zu den einzelnen Themen übergehen: Wird in Gremiensitzungen auch über die Ursachen der aktuellen Lage der Kulturschaffenden in Deutschland diskutiert? Kann es sein, dass Kulturschaffenden in Deutschland selbst meist prekäre Arbeitsbedingungen einfach hinnehmen und damit verhindern, dass die Kultur ein kritischer Raum für den Diskurs über Arbeit, Armut und Ausbeutung werden kann? Wurde die Lage der Kulturschaffenden in Deutschland in den vergangenen Jahren seitens der Politik nicht verharmlost?

AV: Das hat sich meines Erachtens seit der Corona-Zeit deutlich verändert. Allein dass jetzt von Mindesthonoraren gesprochen wird und viele Debatten über die Verbesserung der Situation von Kulturschaffenden geführt werden, Institutionen wie Themis eingerichtet wurden und Missbrauchsfälle an Musikhochschulen deutlich thematisiert werden, zeigt ein verändertes Mindset. Das Dumme ist nur, dass einerseits Mindesthonorare empfohlen werden, andererseits die Töpfe, die diese Honorare bedienen sollen, gekürzt werden. Der Kuchen wird also kleiner, während meines Erachtens tendenziell mehr Menschen davon etwas abbekommen wollen. Diese Konkurrenz ist schwierig und führt auch zu Unterbietungsprozessen – gerade auf dem freien Markt, der nicht öffentlich gefördert wird – und somit ins Prekariat. Daran hat sicherlich auch eine gewisse Weltfremdheit Schuld, da viele Musikerinnen und Musiker in ihrer Ausbildung Themen wie Honorarverhandlungen, Vertragsrecht, Verwertungsgesellschaften, Steuerrecht u.v.m.  kaum kennen lernen.

PM: Bereits im Jahre 2017 meinte der damalige Generalsekretär des Deutschen Musikrates, Herr Christian Höppner, dass Musik vor allem in der Grundschule zu wenig stattfindet.2 Dabei setzt sich der Bundesverband Musikunterricht bereits seit 2014 für ein umfassendes Gesamtkonzept Musikalischer Bildung ein. Agenda 2030 hieß die Initiative, die sich deutschlandweit der Verbesserung des schulischen Musikunterrichts verschrieben hat. Nun sind wir im Jahre 2024 und die musikalische Bildung ist sehr stark erodiert. Auch hierzu hat Deutscher Musikrat in diesem Jahr Stellung bezogen. Woran lag das? Hat die Politik versagt oder wurden die Stimmen der Kulturschaffenden über all die Jahre einfach nicht gehört?

AV: Hierfür gibt es viele Gründe. Lehrkraft zu sein ist eine anstrengende Tätigkeit, die zwar sehr erfüllend sein kann, aber unter immer härteren Bedingungen stattfindet. Wenn angesichts der demografischen Entwicklung junge Menschen eine immer größere Auswahl an Berufen haben, werden gerne vermeintlich leichtere und – im Falle von Musikschullehrkräften – auch besser bezahlte Berufe bevorzugt. Denn Musik kann man ja auch als Hobby weiter pflegen. Hinzu kommt, dass das System Schule in Deutschland sehr reglementiert und unübersichtlich ist: Was in Hamburg bevorzugt wird, hat in Bayern vielleicht keine Bedeutung. Wer in Bremen studiert, kann nicht ohne weiteres in Baden-Württemberg unterrichten, soweit ich weiß. Und die Eignungsprüfungen haben einen sehr schlechten Ruf, hier existiert das Narrativ von enormer Schwierigkeit, das besonders Jugendliche abschreckt, die nicht solistische Spitzenpreisträger von Jugend musiziert sind, sondern vielleicht eher in einer Band spielen und das Miteinander des Musizierens genießen. Und genau diese sind es, die womöglich in einem Musiklehrerberuf glücklich werden könnten. Wir haben gerade begonnen, mit einer Kampagne auf Instagram und TikTok Jugendliche für dieses Berufsfeld zu begeistern. Unter dem Motto „Zukunft braucht Musik, Zukunft braucht Dich!“ sind hier Videos und eine zentrale Informationswebsite zu finden.

PM: Sehr interessant! Eine im Auftrag des Musikinformationszentrums (miz) im Jahr 2023 durchgeführte Studie ergab, dass bei jedem fünften Musikschaffenden das Monatseinkommen unter 1.500 Euro liegt. Fast ein Drittel der Befragten hatte Nebenjobs, die nichts mit Musik zu tun hatten3, um sich über Wasser zu halten. Auch das Forschungsprojekt „Systemcheck“ kam zu dem Ergebnis, dass darstellende Künstler:innen im Schnitt knapp über dem Mindestlohn verdienen. Wo liegen die Ursachen dieser Entwicklung Deiner Meinung nach und was können wir dagegen unternehmen?

AV: Ich glaube, dass wir uns gesamtgesellschaftlich über den Wert von Kunst und insbesondere Musik bewusst werden müssen. Als Klavierlehrerin mit über 40 Schülerinnen und Schülern in jeder Woche wurde ich ständig gefragt, was ich denn vormittags so tue. Meine Schüler:innen gingen also anscheinend davon aus, dass ich so nebenbei als Hobby unterrichte und eigentlich einen „richtigen“ Beruf habe. Konzertierende Künstlerinnen und Künstler werden meiner Kenntnis nach ähnlich betrachtet: Du spielst Musik, das macht Spaß, das macht dich glücklich, das reicht doch eigentlich – und ein bisschen Geld kriegst du auch noch. Dass unendlich viel unsichtbare Arbeitszeit darin steckt, ein Konzert zu spielen, wie Recherchen nach Werken, Proben, Üben von Kindesbeinen an, teure Instrumente und ihre Wartung, die Akquise von Auftritten, Vertragsverhandlungen, Konzertkleidung, Reisen – das wird häufig nicht ausreichend gesehen.

PM: Das Thema „Honoraruntergrenze“ war auch eines der meistdiskutierten Themen in diesem Jahr. Es gab Stellungnahmen, Empfehlungen, und ja, sogar Vorgaben auf Bundes- sowie Landesebenen. Ich werde jetzt nicht die alle einzeln aufzählen. Mir geht es dabei um was anderes: Woran liegt es, dass es keine einheitliche Honoraruntergrenze geben kann? All die o.g. Stellungnahmen, Empfehlungen sowie Vorgaben sind meines Erachtens gar nicht einheitlich. Irre ich mich?

AV: Das ist richtig, sie sind nicht einheitlich, aber es gibt gewisse Überschneidungen. Mitglieder im Deutschen Musikrat sind nicht nur die Verbände, die Musikerinnen und Musiker vertreten, sondern auch die Musikwirtschaft. Hier gab es mehrere Runden, um gemeinsam Honoraruntergrenzen-Empfehlungen abzustimmen. Wir sind damit fast fertig, aber es war ein langer Prozess, der auch weiterlaufen wird. Denn diese Grenzen müssen jährlich neu für die Folgejahre ausgelotet werden. Wichtig ist, dass sie sich auf öffentlich geförderte – in unserem Fall auf BKM-geförderte – Projekte beziehen und nicht allgemein gültig sein können und dürfen. Denn es gibt schließlich auch einen freien Markt, wir können und wollen hier nichts vorschreiben.

PM: Ein besonders dringender Handlungsbedarf besteht laut den Ergebnissen des Forschungsprojekt „Systemcheck“ bei der Altersvorsorge. Langjährige Erwerbsbiografien enden aktuell häufig in Altersarmut. Es gab dieses Jahr sogar prominente Beispiele, ohne konkrete Namen zu nennen. Auch der Deutsche Musikrat geht im dem o.g. Positionspapier auf das Thema ein. Dabei fordert der Deutsche Musikrat u.a., dass die KSK weiterhin ihren Aufgaben nachkommen können soll und gleichzeitig die Belastungen für die Beiträge zahlenden Unternehmen nicht zu hoch werden dürfen. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

AV: Nicht unbedingt, wenn wirklich alle Unternehmen, die die Kunst Selbständiger verwerten, ihre Beiträge zahlen. Aber ich bin keine Versicherungsfachfrau. Ich selbst war zu Beginn meiner Berufstätigkeit als Klavierlehrerin bei der KSK versichert und habe gelernt, dass die Beiträge, die ich zahle, nicht zu gering sein sollten – sonst kommt auch später zu wenig dabei heraus. Und damit bin ich wieder bei dem Lernprozess, den auch Musikerinnen und Musiker bereits im Studium angehen sollten: Sie müssen sich mit Versicherungen, Steuern, Selbständigkeit, Verträgen, Marketing usw. vertraut machen und können nicht darauf hoffen, dass sie allesamt von tollen Agenturen rundum betreut werden.

PM: Danke Dir für Deine Einblicke! Zwei weitere wichtige Themen dieses Jahres waren die Folgen des Herrenberg-Urteil sowie die Umsatzsteuerbefreiung von Musikunterricht. In Bezug auf die juristische Klarheit darüber, wo die Grenzen zwischen Angestelltenstatus und Honorartätigkeit liegen, werden noch weitere Anstrengungen nötigt sein. Auf der anderen Seite konnte im Rahmen einer Petition zum Thema Umsatzsteuer eine bis dahin nicht dagewesene Geschlossenheit demonstriert und einige wichtige Änderungen durchzusetzt werden. So bleibt das Bescheinigungsverfahren für private Musiklehrende nun doch bestehen. Jedoch bedarf es auch in diesem Zusammenhang weiterer Nachbesserung. Woran liegt es Deines Erachtens, dass man diese Geschlossenheit so selten demonstriert? Oder irre ich mich diesbezüglich?

AV: Es bedarf enorm umfangreicher Kommunikationsanstrengungen, um Geschlossenheit herzustellen. Aber genau das ist unsere Aufgabe, sowohl des Musikrats als auch des Kulturrats. Wir haben als DMR das Glück, mit sehr aktiven Landesmusikräten und Mitgliedsverbänden im pädagogischen Bereich gemeinsam die Länder und den Bund in die Mangel nehmen zu können – das war meines Erachtens der Punkt, mit dem wir bezüglich des Jahressteuergesetzes etwas erreicht haben.  

PM: Lass uns mal bitte kurz das Thema wechseln. Die Anschuldigungen bezüglich Machtmissbrauches in der Kulturbranche sind ebenfalls nicht neu. Im Jahr 2023 kündigte Kulturstaatsministerin Claudia Roth an, die Branche durch die Einführung eines Verhaltenskodexes in die Pflicht nehmen zu wollen.4 Im Sommer 2023 startete deshalb der Deutsche Kulturrat einen Dialogprozess zum Thema „Respektvolles Arbeiten in Kunst, Kultur und Medien“, welcher bereits abgeschlossen wurde. Das Positionspapier wurde meines Wissens Kulturstaatsministerin Claudia Roth vorgelegt. Das Thema taucht aber in dem Positionspapier des Deutschen Musikrats für den Wahlkampf der Parteien zur Bundestagswahl 2025 vom 25.11.2024 nicht auf. Bedeutet dies, dass der Deutsche Musikrat die entsprechenden Schritte erfolgreich einleiten konnte und sich über deren zukünftige Umsetzung keine Sorgen macht? Mit anderen Worten: Es wird demnächst unabhängig von dem Wahlausgang Änderungen geben und der Deutsche Musikrat erst einmal keinen weiteren Handlungsbedarf sieht?

AV: Beim Dialogprozess respektvolles Arbeiten habe ich in der abschließenden Runde mitgewirkt. Es ist ein Papier, das appelliert, aber politisch umgesetzt werden muss m.E. vor allem die auskömmliche Finanzierung von Themis als unabhängige Beratungsstelle gegen Missbrauch. Bei der Auswahl unserer Positionen, die wir den Parteien im Prozess der Erstellung ihrer Wahlprogramme zukommen ließen, hatte dieses Thema – bei aller Wichtigkeit – nicht die Priorität. Wie gesagt: Es ist ein Appell, der aus meiner Sicht vor allem in die Institutionen hineinwirken soll, kein Forderungspapier, das sich nur an Politik wendet, damit entsprechende Gesetze entwickelt werden.

PM: Ich frage mich, wie systematisch der sexuelle Missbrauch in der Kulturbranche verbreitet ist. Im Rahmen einer Umfrage von rbb-Reportern aus dem vergangenen Jahr wurde in knapp 130 Fällen angegeben, dass es sich beim Betroffenen um sexualisierten Missbrauch handelte. Auch anderen Studien sind Fälle des sexualisierten Missbrauches zu entnehmen, sei es eine geforderte sexuelle Gegenleistung für eine Rolle, einen Auftritt oder ein Engagement. Das hört sich schon systematisch und vor allem geplant an. Stimmt mein Eindruck, dass über dieses Thema zu wenig diskutiert sowie berichterstattet wird?

AV: Die Dunkelziffer ist meines Erachtens sehr hoch. Vorbildlich wird meiner Einschätzung nach an der Hochschule für Musik und Theater München damit umgegangen, denn Aufdecken ist das Eine, institutionell eine verbesserte Kommunikations- und Umgangskultur einzurichten, ist ebenso wichtig.

PM: Lass uns bitte kurz über das Thema „Digitalisierung“ sprechen. Welchen Stellenwert hat der Einzug der Digitalisierung im Kultur-Bereich für Dich persönlich? Denn insbesondere die Corona-Pandemie hat einen gravierenden Mangel, unter anderem im „Kultur“ – Bereich, sichtbar gemacht.

AV: Digitalisierung ist ein Schlagwort, das mich seit Mitte der 90er begleitet. Allmählich finde ich es nervig, denn es ist ein schlichtes Wort für eine Vielzahl von Phänomenen. Ich habe in meiner vorigen Tätigkeit bereits eine Weile vor der Corona-Zeit die Verwaltung der Landesmusikakademie auf ein cloudgestütztes Online-System umgestellt, das gut funktionierte. Somit konnten wir ad hoc im Home-Office tolle Online-Veranstaltungen als Team miteinander verbunden entwickeln. Wir haben direkt zwei Wochen nach Beginn des ersten Lockdowns damit angefangen, Zoom kennen gelernt, damit experimentiert, unsere Dozentinnen und Dozenten dazu eingeladen, dieses Werkzeug zu erproben, und losgelegt. Ich finde, Digitalisierung bietet enorme Möglichkeiten, wenn man sich dessen bedient, um letztendlich aber wiederum persönliches Erleben und physische Begegnung möglich zu machen.

PM: Liebe Antje, jetzt hast Du die Gelegenheit, unsere Leser:innen darüber zu informieren, wie diese Eure Diskussionen im Rahmen diverser Gremien ggf. unterstützen können.

AV: Ich lade zu unseren Online-Austauschveranstaltungen rund um das Thema Musik und Demokratie im nächsten Jahr herzlich ein. Das mündet in unsere Tagung zur Mitgliederversammlung am 24.10. Ansonsten kann ich nur darum bitten, die eigenen Verbände zu unterstützen, Mitglied zu werden und unsere zivilgesellschaftliche Arbeit damit zu stärken. Denn wir sind ja der Verband der Verbände, deren Stärke mir sehr am Herzen liegt.

PM: Vielen Dank Dir! Liebe Antje, wir danken Dir für das sehr interessante Gespräch! Wir wünschen Dir alles Gute und viel Erfolg bei allem, was Du noch vorhast! Für die Weihnachtszeit wünschen wir Dir, dass sie besinnlich ist, Du ein wenig zur Ruhe kommst, die Tage mit Deiner Familie genießen und Kraft tanken kannst. Ich hoffe, wir bleiben auch in 2025 in Kontakt und wünsche Dir ein glückliches und erfolgreiches 2025!


  1. Positionspapier des Deutschen Musikrats für den Wahlkampf der Parteien zur Bundestagswahl 2025 vom 25.11.2024 ↩︎
  2. www.deutschlandfunk.de/musikunterricht-in-der-schule-ausverkauf-musikalischer-100.html (letzter Abruf:  28. November 2024) ↩︎
  3. https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/musiker-kuenstler-arbeit-einkommen-nebenjob-100.html (letzter Abruf: 3. November 2023) ↩︎
  4. https://www.bz-berlin.de/unterhaltung/metoo-kulturbranche-besonders-anfaellig-fuer-machtmissbrauch ((letzter Abruf: 03. April 2024) ↩︎

Copyright Bild: DMR / Fotograf: Maxim Zimmermann