PianoMe Talks: Interview mit dem Konzertpianisten Jens Lühr

PianoMe Talks: Interview mit dem Konzertpianisten Jens Lühr

Dieses Mal durften wir den renommierten Konzertpianisten Jens Lühr zum Gespräch begrüßen. Dabei ging es unter anderem um die aktuelle Situation von Musiker:innen in Deutschland und Norwegen. Außerdem sprach er über seine Lehrtätigkeit und darüber, welche persönliche Bedeutung das „Musizieren“ für ihn hat.


PianoMe (PM): Lieber Jens, vielen Dank Dir für Deine Zeit! Es ist uns eine große Freude, dass Du zu einem Interview mit PianoMe bereit bist!

Jens Lühr (JL): Gerne, und herzlichen Dank für die Einladung! Es freut mich auch und ist mir ein Vergnügen.

PM: Vorstellen müssen wir Dich unseren Leser:innen nicht mehr. Du spielst zeitgenössische Musik und bist sowohl als Solist als auch als Kammermusiker bekannt. Deine Offenheit und Vielseitigkeit im Umgang mit klassischer und zeitgenössischer Klavierliteratur hast Du bereits bei mehreren Auftritten unter Beweis gestellt. Neben Deiner Tätigkeit als Konzertpianist bist Du als Klavierlehrer und Chorleiter in der Gemeinde Porsanger in Norwegen tätig. Das spricht doch alles für sich…

JL: (lacht) Danke für diese positive Umschreibung meiner Tätigkeiten und das Würdigen meiner Vielseitigkeit. Inzwischen haben sich ein paar Dinge geändert: Die Chorleitertätigkeit habe ich vor drei Jahren zugunsten des Postens des Kulturschulrektors aufgegeben. Diesen habe ich inzwischen aber auch gekündigt, um im Oktober als Musiklehrer in der Gemeinde Karsløy zu wirken und in die Nähe von Tromsø ziehen zu können, wo sich ein Teil meiner nächsten Angehörigen befindet.

PM: Sehr interessant! Magst Du uns zunächst etwas über Deine „Wurzeln“ erzählen?

JL: Gerne. Ich stamme aus dem Landkreis Uelzen in Niedersachsen, bin dort an die Kreismusikschule gegangen. Später habe ich in Hannover an der Hochschule für Musik und Theater mein Musiklehrer-Grundstudium und gleichzeitig die künstlerische Ausbildung absolviert. Dieses Doppelstudium war für mich mit Hauptfach Klavier Pflicht, um eine pädagogische Grundlage zu haben. Dafür bin ich noch heute dankbar, weil man sich doch als Pianist sein Leben zumeist nur mit Unterrichten verdienen kann. Meine Lehrer sind es absolut alle wert, mit Namen erwähnt zu werden, aber herausheben möchte ich doch Prof. Bernd Goetzke, der mir mit seinem Ausbildungshintergrund als Student von Arturo Benedetti Michelangeli enorm in meiner Entwicklung als Pianist geholfen hat. Mit der zeitgenössischen Musik bin ich durch den Pianisten Jeffrey Burns warm geworden, bei dem ich zahlreiche Kurse in der Musikakademie Rheinsberg besucht habe. Die persönliche empfundene Krönung meiner Ausbildung war das zweijährige Studium mit Rudolf Buchbinder an der Musikakademie Basel. Im Fernsehen habe ich ihn unzählige Male bewundert, dann war er mein Lehrer – das war die Erfüllung eines Traums. Das Studium mit dem Konzertexamen erfolgreich abgeschlossen habe ich dann aber an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig bei Prof. Markus Tomas.

PM: Spannend! Diese vielen Erfahrungen haben Dich sicherlich zu einem vielseitigen Musiker geformt. Welchen Einfluss hat das auf Deine Klavierspieltechnik und was bedeutet das „Musizieren“ für Dich persönlich?

JL: Ich war immer ein bisschen rebellisch, wenn es um technische Fragen ging. Ich habe sie als zweitrangig empfunden, weil ich erlebte, dass viele technische Probleme im mangelnden Verständnis einer musikalischen Passage begründet waren. Mit längerem Studieren der musikalischen Zusammenhänge und dem Schaffen von Klarheit gelang es mir, sehr viele technisch schwierige Stellen zu bewältigen. Jedoch habe ich später Grenzen erlebt, die mich zum Spielen von technischen Übungen zwangen. Ich wurde nicht übermäßig technisch ausgebildet, hauptsächlich mit Übungen zum Bewusstmachen und Entfernen von blockierenden Verspannungen. Diese halte ich noch heute für wesentlich. Zu meinen Schüler:innen sage ich häufig: Denkt daran, Klavierspielen ist fast ausschließlich Finger- und Kopfarbeit. Musizieren ist für mich das Verstehen und Wiedergeben eines Werkes – so authentisch wie möglich und im Sinne des Komponisten. Dabei denke ich aber, dass man gleichzeitig nicht allzu streng sein muss und sich selbst eine gewisse Freiheit der Deutung und auch spontane Elemente zugestehen sollte. Da kann man viel vom Jazz lernen, wie Friedrich Gulda es einmal hervorgehoben hat.

PM: Was bedeutet in diesem Zusammenhang die künstlerische Identität und welche Rolle spielt diese für die Karriere bei Konzertpianist:innen?

JL: Die künstlerische Identität ist wohl gleichzusetzen mit dem Ausbildungshintergrund und den persönlichen Vorlieben. Ich denke, dass eine lange Ausbildung schon vom Kindesalter an ein großer Vorteil ist, da man sozusagen mit dem Instrument aufgewachsen, wenn nicht gar in gewisser Weise mit ihm zusammengewachsen ist.

PM: Das hört sich sehr spannend an! Ist das was, was man erlernen kann oder muss man dafür „geboren“ worden sein?

JL: Schwer zu beantworten. Was weiß ich? Ich denke, dass es unzweifelhaft Unterschiede in der Begabung gibt, aber dass sie überschätzt werden. Es hängt sehr viel von den Vorlieben ab. Ich habe als Kind ständig irgendwelche Melodien aufgeschnappt und nachgesungen oder gesummt. Wenn man etwas von sich aus gerne tut, ist es vielleicht ein Zeichen für eine angeborene Begabung. Das sehe ich bei Schüler:innen, die alles spannend finden, was mit Musik zu tun hat. Die lernen am schnellsten und saugen alle Informationen wie ein Staubsauger auf (lacht). Es sind die, die dann bei Schüler:innenkonzerten herausragen und eventuell den Weg der Musik weitergehen.

PM: Du unterrichtest ja das Klavier auch selbst. Wie siehst Du die aktuelle Rolle des/der Lehrers/Lehrerin in der musikalischen Ausbildung?

JL: Die Rolle der Lehrerin bzw. des Lehrers ist die, den Schüler:innen Informationen zugänglich zu machen und sie ihnen zu geben. Das Erste ist die pädagogische Aufgabe, das Zweite die fachliche.

PM: Wie siehst Du die jungen Talente der neuen Generation, und was würdest Du ihnen besonders raten?

JL: Ich denke, dass es viele fantastische Talente überall auf der Welt gibt. Es ist schwer, allgemeine Ratschläge zu geben. Jedes Talent muss seinen eigenen Weg finden und einen gute:n Lehrer:in, aber nicht seine:n Lehrer:in zu schnell weder in die eine oder andere Richtung beurteilen. 

PM: In einem unserer Interviews mit einer promovierten Konzertpianistin und Buchautorin haben wir über das Thema „Selbstbewusstsein“ gesprochen. Findest Du nicht, dass ausgerechnet mangelndes Selbstbewusstsein bei vielen jungen Musiker:innen aktuell einen großen Mangel darstellt? Nicht, weil die es nicht wollen oder nicht über diese Charaktereigenschaft verfügen würden. Eher deshalb, weil die aktuelle „Umwelt“ dies ggf. gar nicht zulässt: Permanenter Stress, schwierige Arbeitsbedingungen, stetiger Durchsetzungskampf, Berufsdruck, nicht zuletzt aber auch die anhaltende Wirkung der Corona-Pandemie. Irre ich mich?

JL: Hier brauche ich ein bisschen Zeit zum Antworten … Ich denke, Selbstbewusstsein ist nicht direkt anzustreben, sondern eher indirekt – durch das gründliche Aufspüren der Absichten einer Komponistin bzw. eines Komponisten, insbesondere beim Interpretieren der Werke anderer. Es ist eine Zeitfrage und die der inneren Ruhe. Habe ich die Zeit für die gründliche Vorbereitung eines Konzertauftritts? Die von dir geschilderten Faktoren behindern die innere Ruhe und behindern damit das optimale Ausnutzen der Zeit. Bei einem gründlich vorbereiteten Auftritt erlebe ich, dass die Frage des Selbstbewusstseins keine Rolle spielt oder dass es sich automatisch einstellt. Vielleicht sollten mehr Musiker:innen Politiker:innen werden, um gezielt Einfluss auf diese schädlichen Faktoren nehmen zu können.

PM: Danke Dir für Deine Meinung! Siehst Du Unterschiede zwischen den Herausforderungen für junge Musiker:innen aus Deutschland und Norwegen? Wie ist die Situation in Norwegen? Was ist in Norwegen grundsätzlich anders als in Deutschland?

JL: In Norwegen haben es junge Musiker:innen leichter, was mit der grundsätzlich besseren ökonomischen Situation des norwegischen Staates zusammenhängt. Das, was hier besser und anders ist, ist die Honorierung von Lehrer:innen an öffentlichen Kulturschulen. Diese ist in der Regel Lehrer:innen an allgemeinbindenden Schulen gleichgestellt oder ähnlich. Aber auch hier gilt, besonders für Pianist:innen: Wer nicht unterrichtet, wird sich kaum sein Leben finanzieren können. 

PM: Sehr interessant! Wie sieht es mit der sozialen Absicherung der Musiker:innen in Norwegen aus? Gibt es überhaupt solche Systeme?

JL: Die soziale Absicherung ist in Norwegen sehr standardisiert. Auch da unterscheidet sich ein:e Lehrer:in an einer allgemeinbildenden Schule nicht oder fast nicht von einem/einer an der öffentlichen Kulturschule. 

PM: Danke Dir für diese Auskunft! Lass uns bitte kurz das Thema wechseln: Soweit ich weiß, komponierst Du auch selbst. Was war der eigentliche Beginn Deiner Komponistentätigkeit und wie definierst Du Deinen Kompositionsstil?  

JL: Gerne. Ich komponiere, leider aber nur wenig. Der Beginn meiner Komponistentätigkeit war ein erster Versuch, etwas niederzuschreiben, das jahrelang auf meinem Flügel gelegen hat, ohne dass ich es fertigstellen konnte. Doch eines Tages war die Zeit reif und ich habe das kleine «Tanzstück» für das Klavier fertiggeschrieben. Ich glaube, ich habe rund zehn Jahre dafür gebraucht. Es klingt ohne, dass ich das bewusst wollte, ein bisschen wie ein Stück von Bartok. Die Begegnung mit dem Komponisten Jürgen Kupfer, der in den letzten Jahren, in denen in Deutschland wohnte, mein Konzertmanager war, und der mich ermutigt hat, meine ersten Versuche auch im Konzert zu spielen, brachte mich dazu, ein bisschen weiter zu komponieren. Ich schreibe ziemlich grenzenlos modern, aber doch immer mit einer inneren Struktur. Das fällt mir besonders in Miniaturen leicht. An größere Werke habe ich mich noch nicht gewagt, vielleicht weil es schwieriger ist, zu strukturieren, oder einfach weil mir die Zeit fehlt.

PM: Kann ich Deine Werke als eine Art Brücke zwischen künstlerischer Handwerkskunst und allgemeiner Zugänglichkeit interpretieren? 

JL: Ja, Kunst soll nicht in einer Art von Elfenbeinturm existieren, wie so schön bei der Beerdigungszeremonie meines leider verstorbenen Lehrers und Freundes Jeffrey Burns hervorgehoben wurde. Er hat die neue Musik aus dem Elfenbeinturm für uns heruntergeholt und der Allgemeinheit durch seine großartigen Interpretationen zugänglich gemacht. Ohne ihn hätte ich wahrscheinlich nie ein Interesse für zeitgenössische Musik entwickelt. Die Rolle der Interpretin bzw. des Interpreten ist entscheidend, um gut strukturierte Kompositionen wirken zu lassen.

PM: Was beeinflusst Dich in Deiner künstlerischen Tätigkeit?

JL: Hauptsächlich Aufnahmen von großartigen Pianist:innen und kreativen, mutigen Künstler:innen, die ihre eigenen Wege gehen und sich nicht durch schwierige Umstände von ihrer Entfaltung abhalten lassen. 

PM: Danke Dir! Die nächste Frage kann ich mir leider nicht ersparen (lacht). Wie findest Du das PianoMe-Konzept?

JL: Toll, unter anderem, weil ich selbst in die Situation geraten bin, dass ich mein Haus mit Flügel gerne anderen Musiker:innen zur Verfügung stellen möchte. Die Seite www.piano.me bietet mir die Möglichkeit, gezielt Musiker:innen anzusprechen.

PM: Was sind abschließend Deine Ziele für die Zukunft? Möchtest Du Deine Pläne mit unseren Leser:innen teilen?

JL: Ich habe das konkrete Ziel, eine weitere CD mit virtuoser Klaviermusik von Friedrich Kuhlau einzuspielen und allgemein meine Konzert- und Komponieraktivität neben dem Unterrichten in den nächsten Jahren auszuweiten.

PM: Lieber Jens, wir danken Dir für das sehr interessante Gespräch! Wir wünschen Dir alles Gute sowie viel Erfolg mit allem, was Du noch vorhast! Wir bleiben in Kontakt.

JL: Herzlichen Dank!


Copyright Foto: @Jens Lühr (Aufnahme: @Christina Gjertsen)