Das Fortbestehen einer Musikschule ist heute längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Finanzielle Engpässe, der Mangel an qualifizierten Fachkräften und stetig wachsende organisatorische Anforderungen setzen viele Einrichtungen erheblich unter Druck. Besonders die Leitungsposition ist zu einer vielschichtigen Aufgabe geworden, die neben künstlerischer Kompetenz zunehmend auch betriebswirtschaftliches Denken und strategisches Management erfordert.
Wie lassen sich diese Herausforderungen bewältigen? Darüber haben wir mit Johann Ahl de Oliveira, dem Leiter der Musik- und Kunstschule Ataraxia, gesprochen. Mit seiner langjährigen Erfahrung und fachlichen Expertise beleuchtet er die aktuelle Situation und zeigt auf, welche Weichen jetzt gestellt werden müssen, damit Musikschulen auch in Zukunft ihre unverzichtbare kulturelle und gesellschaftliche Rolle erfüllen können.
PianoMe (PM): Lieber Johann, vielen Dank Dir für Deine Zeit. Es ist uns eine große Freude, dass Du zu einem Interview mit PianoMe bereit bist.
Johann Ahl de Oliveira (JAdO): Lieber Rasim, vielen herzlichen Dank für die Einladung. Für mich ist es eine große Freude, dieses Interview mit PianoMe zu führen. Ihr macht eine großartige und innovative Arbeit in der Kulturszene, und ich fühle mich über die Einladung sehr geehrt.
PM: Das ist toll, danke. Zuerst wollen wir Dich unseren Leser:innen gerne kurz vorstellen, obwohl Dich viele sicherlich bereits kennen. Du bist vor fast 15 Jahren zum Studium nach Deutschland gekommen, damals nach Freiburg. Davor hast Du viele Jahre als Orchestermusiker gearbeitet. Nach Deinem Studienabschluss in Deutschland hast Du als Musiklehrer gearbeitet. Seit 2020 konntest Du Erfahrungen im kommunalen Bereich sammeln und seit Januar 2024 leitest Du die Musik- und Kunstschule Ataraxia. Eine beachtliche Entwicklung, die für sich spricht.
JAdO: (lacht) Ganz genau, das ist schon eine tolle Zusammenfassung. Noch während meines Studiums habe ich intensiv als Orchestermusiker in Kammer- und Sinfonieorchestern gearbeitet und bin anschließend 2010 gleich nach Deutschland gekommen. Hier konnte ich meine Leidenschaft für Filmmusik verwirklichen, habe eine Vorbereitung an der Musicube Academy in Bonn absolviert und danach meinen Master an der Hochschule für Musik in Freiburg im Fach Filmmusik abgeschlossen.
Ich bin extrem interessiert an der Wirkung von Musik, Kunst, Tanz und Schauspiel in verschiedenen Richtungen – sowohl was den Einfluss auf das Gehirn betrifft als auch ihre heilende Kraft in der Musiktherapie. Aber natürlich auch an der gesellschaftlichen Komponente, die entsteht, wenn man Kunst aktiv ausübt. Nach meiner Zeit als Orchestermusiker konnte ich meine Erfahrung im Dirigieren vertiefen und sowohl mit Jugendorchestern als auch mit erwachsenen Sinfonieorchestern arbeiten, unter anderem in Leonberg und aktuell in Schwerin. Diese Erfahrung, künstlerische Prozesse gemeinsam zu gestalten und weiterzugeben, hat mich schließlich in die Pädagogik geführt, wo ich mich sehr wohlfühle, und später dann in die Leitung.
Das ist sehr spannend, weil man plötzlich mit vielen neuen Aufgaben konfrontiert ist, die man als Künstler:in oder Pädagog:in so nicht kennt. Diese Aufgaben machen mir aber besonders Spaß, etwa der Aufbau von Netzwerken mit Partner:innen und Förder:innen, politische Gespräche über Fördermittel für kulturelle Bildung in Stadt und Land, Verbandsarbeit und natürlich die Personalführung.
Hier an der Musik- und Kunstschule Ataraxia haben wir in den letzten 35 Jahren sowohl in der Stadt Schwerin als auch im Land Mecklenburg-Vorpommern einen hervorragenden Ruf aufgebaut. Unsere Schule vereint vier Sparten – Musik, Kunst, Tanz und Schauspiel – und steht für innovative, kreative Arbeit mit Fokus auf ein interessantes, freudiges und zugleich effektives Lernen. Wir sind bekannt für unsere lockere Atmosphäre, aber ebenso für die hohe Qualität unserer Lehrkräfte und eine solide Struktur, die die Schüler:innen sowohl künstlerisch als auch persönlich bestmöglich fördert.
PM: Beeindruckend. Magst Du uns zunächst etwas über Deine Wurzeln erzählen?
JAdO: Gerne. Ich bin auf einem anderen Kontinent geboren, nämlich in Südamerika, in Brasilien, einem Land, das von vielen Kulturen geprägt ist. Ich komme aus einer Familie, in der die Hälfte deutsche Wurzeln hat. Wir haben aber auch portugiesische und indigene Vorfahren. Schon als Kind habe ich durch meine Familie die deutsche Kultur kennengelernt, besonders durch mein Interesse an klassischer Musik.
Es gab eine wöchentliche Fernsehsendung, die klassische Orchesterkonzerte mit Kommentaren zeigte, die meisten davon mit den Berliner Philharmonikern. Dadurch entstand mein Traum, eines Tages bei den Berliner Philharmonikern zu spielen. Das prägte meine ganze Kindheit und Jugend.
Nach meinem Bachelorstudium haben sich meine Pläne etwas verändert, aber wenn ich an diese Zeit denke, weiß ich, dass die Philharmoniker meine Leidenschaft für klassische Musik geweckt haben. Gleichzeitig war ich durch meine Wurzeln viele Jahre mit brasilianischer Musik auf europäischen Bühnen aktiv, bei zahlreichen Festivals, insbesondere mit meiner Band Forró de KA.
PM: Sehr spannend. Ich schlage vor, dass wir zunächst eine Verbindung zur aktuellen gesellschaftlichen Wertschätzung von Künstler:innen herstellen. Wird der Beruf der Musikerin bzw. des Musikers von der Gesellschaft Deiner Meinung nach noch ausreichend anerkannt?
JAdO: Eine hervorragende Frage und keine einfache. Kunst steht oft wirtschaftlich unter Druck. Wir leben in einer Zeit, in der es mehr Künstler:innen gibt als je zuvor, aber gleichzeitig ist es schwer, für alle einen Platz zu finden.
Die Rahmenbedingungen sind häufig suboptimal, und ich bin überzeugt, dass ein Teil des Problems schon bei den Hochschulen beginnt. Es fehlt an Pädagog:innen und das Verhältnis zwischen künstlerischer und pädagogischer Ausbildung stimmt oft nicht. Wir brauchen mehr Ausbildung im Bereich Pädagogik und Musiktherapie.
Ich sehe Musik, Kunst und Tanz nicht nur als Kunstformen, sondern als starke Mittel, um das Wohlbefinden und die Persönlichkeitsentwicklung der Gesellschaft zu unterstützen und um Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern.
PM: Kann es sein, dass Künstler:innen selbst prekäre Arbeitsbedingungen einfach hinnehmen und damit verhindern, dass die Kultur ein kritischer Raum für den Diskurs über Arbeit, Armut und Ausbeutung wird?
JAdO: Das ist leider oft so. Viele Künstler:innen sind leidenschaftlich, leben ihren Traum, aber wirtschaftlich fehlt oft das Wissen. Dadurch werden schlechte Konditionen hingenommen.
Bis vor kurzem hatte die Kulturszene und auch die kulturelle Bildung kaum Lobbyarbeit. Erst jetzt beginnen Gewerkschaften und Verbände, sich politisch einzubringen, was ich sehr begrüße. Aber es wird noch dauern, bis sich das spürbar verbessert.
Ein weiteres Problem ist, dass der Beruf Künstler:in nicht geschützt ist. Jeder kann auftreten und Geld verlangen. Das schafft zwar Freiheit, führt aber auch dazu, dass der Markt teilweise durch niedrige Honorare geschwächt wird.
Herrenberg-Urteil: Auswirkung auf meine Musikschule
PM: Seit dem sogenannten Herrenberg-Urteil müssten viele Musikschulen ihre Mitarbeiter:innen fest anstellen. Wie sieht es diesbezüglich an Deiner Musikschule aus?
JAdO: Das Herrenberg-Urteil hat auch uns stark betroffen. Die Umstellung von Honorarkräften auf Festanstellungen war finanziell eine große Herausforderung. Insgesamt mussten wir 16 Lehrkräfte anstellen, was eine zusätzliche Förderung von etwa 170.000 Euro erforderte.
Zum Glück konnten wir dank der zusätzlichen Unterstützung der Stadt Schwerin mit 100.000 Euro und des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit 70.000 Euro das Jahr stabil überstehen. Aber diese Belastung zeigt, wie wichtig langfristige Planung ist.
Wir betreuen derzeit rund 1.500 Schüler:innen mit etwa 70 Mitarbeitenden. Unsere Lehrkräfte sind engagiert, verdienen aber weit unter kommunalem Niveau. Deshalb hoffen wir sehr, dass Bund, Land und Stadt auch künftig zuverlässig fördern.
PM: Wo wir schon über Finanzierung sprechen: Zu den Finanzierungsquellen zählen auch Elternbeiträge, Spenden und Sponsoring. Welchen Anteil haben diese Mittel bei Ataraxia?
JAdO: Unsere größten Einnahmen stammen nach wie vor aus den Elternbeiträgen, gefolgt von Zuschüssen der Stadt Schwerin, des Landes und des Bundes, unter anderem über das Projekt „Kultur macht stark“ vom Verband deutscher Musikschulen. Dazu kommen private Förder:innen wie die Feldtmann-Stiftung oder Rotary Club u.a., die unsere Schule seit Jahren unterstützen.
Weitere Einnahmen erzielen wir durch kleine Vermietungen und die Künstler:innenvermittlung. Außerdem haben wir noch Kapazitäten in einigen Räumen, die wir vormittags oder am Wochenende an Kooperationspartner:innen vergeben, etwa an das Mecklenburgische Staatstheater oder verschiedene Stadtprojekte. Auch Künstler:innen können unsere Räume zum Üben nutzen.
PM: Wie sieht es mit kreativen Finanzierungsquellen aus, zum Beispiel über Raumvermietung oder Kooperationen mit Projekten wie PianoMe?
JAdO: Ich finde das Konzept von PianoMe großartig. Genau solche Ideen können helfen, Synergien zu schaffen. Wir haben tatsächlich noch ein paar freie Raumzeiten, die sich dafür eignen. Wenn Projekte wie PianoMe Künstler:innen helfen, Räume flexibel zu nutzen, ist das eine Win-win-Situation für Schulen, Künstler:innen und die Kultur insgesamt.
Wie viel sollte Musikunterricht kosten?
PM: Gleichberechtigte Teilhabe an Kultur ist ein wichtiges Thema. Wenn die öffentlichen Zuschüsse nicht reichen, um wie viel müssten Elternbeiträge steigen, um das Angebot aufrechtzuerhalten?
JAdO: Ohne staatliche Förderung müssten unsere Beiträge um mindestens 50 Prozent steigen. Um Gehälter auf TVöD-Niveau zu zahlen, müsste eine Unterrichtsstunde etwa 60 Euro kosten, also rund 180 Euro im Monat. Das ist für viele Familien mit mehreren Kindern schlicht nicht machbar. Deshalb ist die Mischfinanzierung aus Elternbeiträgen, Stadt und Land so wichtig.
PM: Findest Du nicht, dass Musikschulen dadurch zunehmend zum Privileg für wohlhabendere Familien werden?
JAdO: Das Risiko besteht, ja. Wir bemühen uns sehr, durch Projekte wie „Kultur macht stark“ auch Kinder aus sozial schwächeren Familien zu erreichen. Wir bieten außerdem Beitragsermäßigungen an und unterrichten direkt in Kitas und Schulen in Stadtteilen wie Dreesch und Lankow. Unser Ziel ist, dass niemand wegen finanzieller Hürden auf künstlerische Bildung verzichten muss. Musik, Kunst und Tanz sind für alle da.
Strukturelle und pädagogische Herausforderungen für Musikschulen
PM: Fachkräfte stellen aktuell eine weitere Herausforderung dar. Viele Musikschulen klagen über Personalmangel. Wie ist das bei Euch?
JAdO: Auch wir spüren das deutlich. Es ist schwierig, qualifiziertes Personal zu finden, insbesondere in der musikalischen Früherziehung, aber auch bei bestimmten Instrumenten. Hinzu kommt der Fachkräftemangel in der Verwaltung. Wir bemühen uns, attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen, aber der Markt ist sehr leergefegt.
PM: Wäre eine Reform der Musikschullandschaft oder der Hochschulausbildung sinnvoll?
JAdO: Ja, absolut. Die Musikhochschulen müssen sich stärker an der Realität orientieren. Manche, wie Rostock, gehen mit pädagogischen Pflichtanteilen schon in die richtige Richtung. Allerdings liegt bundesweit noch zu viel Entscheidungsfreiheit bei den Professor:innen, was den Fokus auf die reine Kunstförderung legt. Es braucht mehr Marktbezug, mehr Projektmanagement, mehr Berufsrealität. Viele Absolvent:innen investieren in Solist:innenprogramme, obwohl nur wenige davon leben können. Das frustriert und ist ein strukturelles Problem.
PM: Wie siehst Du die aktuelle Rolle der Lehrerin beziehungsweise des Lehrers in der musikalischen Ausbildung?
JAdO: Musikpädagog:innen tragen heute eine enorme Verantwortung. Sie sind nicht nur Vermittler:innen von Technik, sondern auch Begleiter:innen in der persönlichen und emotionalen Entwicklung ihrer Schüler:innen.
Auf der Bühne zu stehen ist keine Selbstverständlichkeit, und täglich mit jungen Menschen zu arbeiten, erfordert viel mentale Stärke. Deshalb sollte in der Ausbildung mehr Wert auf psychologische, soziale und pädagogische Themen gelegt werden.
Musik, Kunst und Tanz sind starke Werkzeuge, um Menschen zu fördern, ihr Selbstbewusstsein zu stärken und die Gesellschaft positiv zu beeinflussen.
PM: Sehr interessant. Was sind abschließend Deine Ziele für die Zukunft?
JAdO: Ich möchte dazu beitragen, dass Musik- und Kunstschulen als Bildungseinrichtungen fest verankert werden, mit langfristiger Finanzierung, stabilen Strukturen und gesellschaftlicher Anerkennung. Außerdem wünsche ich mir, dass wir Künstler:innen und Pädagog:innen gemeinsam stärker daran arbeiten, Musik, Kunst und Tanz als Mittel zur Persönlichkeitsentwicklung, aber auch als Mittel für das Wohlbefinden in der Gesellschaft zu etablieren.
Applaus ist schön, aber nicht das Ziel. Das eigentliche Ziel ist, Menschen durch Kunst zu bewegen und ihre mentale Gesundheit zu stärken.
PM: Lieber Johann, wir danken Dir für das sehr interessante Gespräch.
JAdO: Ich danke Euch herzlich. Ich wünsche PianoMe weiterhin großen Erfolg und freue mich auf die Zusammenarbeit.
Copyright Foto: @Viktoria Kravtschenko

