Dieses Mal hatten wir das Vergnügen, den Schauspieler Hagen Henning für ein Interview zu gewinnen. Wir haben über seine Erfahrung und die gegenwärtige Situation der angehenden Schauspieler:innen im deutschsprachigen Raum gesprochen.
PianoMe (PM): Lieber Hagen, es ist uns eine große Freude, dass Du zu einem Interview mit PianoMe bereit bist! Vielen Dank Dir für Deine Zeit!
Hagen Henning (HH): Ich freue mich über die Einladung zum Interview.
PM: Das ist toll, danke! Zuerst wollen wir Dich unseren Leser:innen gerne kurz vorstellen, obwohl Dich viele sicherlich bereits kennen: Nach Deinen Anfängerjahren am Landestheater Dessau hattest Du unter anderem Engagements am Renaissance-Theater Berlin, am Berliner Ensemble und an der Komödie Düsseldorf. An der Deutschen Oper Berlin hast Du den Mathieu Dreyfus in der Uraufführung der Oper „Dreyfus-Die Affäre“ von Jost Meier und George Whyte gespielt. Deine erste Hauptrolle in einem Kinofilm hast Du für das Kiewer Dovshenko-Filmstudio gespielt. In Deutschland warst Du in rund 50 Produktionen vor der Kamera zu sehen – darunter Episodenrollen in Serien, Mehrteiler, Tatorte, Polizeiruf 110 und zahlreiche Spielfilme. Auch als Regisseur hast Du wiederholt gearbeitet, unter anderem für Gitte Haenning und Thomas Freitag. Mehrere Jahre hast Du auch Kabarett gespielt und hast immer wieder gern als Sprecher in Hörspielproduktionen sowie als Moderator gearbeitet. Das spricht doch für sich!
HH: Danke für das Kompliment! Ich habe das große Glück gehabt, als Schauspieler in ganz unterschiedlichen Bereichen arbeiten zu dürfen. So konnte ich mich ausprobieren und neue Möglichkeiten entdecken. Ich habe mich immer wieder ins sprichwörtlich „kalte Wasser“ geschmissen und geschaut, ob es mir Spaß macht. Ob ich der Sache gewachsen bin, müssen andere entscheiden: Letztendlich ist es das Publikum, für das wir auf die Bühne gehen oder vor der Kamera stehen.
PM: Beeindruckend! Magst Du uns zunächst etwas über Deine „Wurzeln“ erzählen?
HH: Geboren bin ich in Meißen und aufgewachsen in Dresden. Meine Mutti war Lehrerin für Mathematik und Physik und mein Vati war Physiker. Schon als kleiner Junge haben mich meine Eltern mit ins Theater und in die Oper genommen. Zu Hause wurde viel klassische Musik gehört und gelesen. Da wurde sicher der Grundstein für meine Interessen gelegt, wofür ich sehr dankbar bin. Nach einigen sportlichen „Versuchen“ im Schwimmen und Turmspringen meldete mich meine Mutti im Pioniertheater des Pionierpalastes Dresden an. Natürlich waren die ersten Aufgaben auf dieser Bühne sehr klein – ich war ein sehr schüchternes Kind – aber ich spürte: Das ist mein Leben! Die Rollen wurden langsam größer und so gab es für mich kein anderes Ziel, als Schauspieler zu werden. Das hat ja dann auch geklappt.
Die Ausbildung an der „Ernst Busch“ Schule hat mich dann sicher gestärkt, um in diesem nicht immer leichten Beruf so viele Jahre bestehen zu können. Bereits während des Studiums drehte ich schon im Ausland, in der damaligen UdSSR, in der Ukraine. Ich spielte die Hauptrolle in dem Film, war der einzige deutsche Schauspieler in dieser Produktion, erst 20 Jahre alt und musste mich durchsetzen! Das war nicht immer leicht.
PM: Spannend! Diese vielen Erfahrungen haben Dich sicherlich zu einem vielschichtigen Schauspieler geformt. Es stellt sich mir gerade die Frage, ob sich durch die unglaublich großen gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre, wie z.B. die Pandemie und Kriege sowie die damit verbundene Flucht und Vertreibung, Dein Blick auf das Schauspiel verändert hat.
HH: Die Corona-Pandemie war gerade für uns Künstler:innen eine enorme Herausforderung! Waren wir doch zum Nichtstun verurteilt. Ich persönlich hatte großes Glück, ich wurde weiterbeschäftigt, habe ein Hörbuch produziert und ein Programm vorbereitet.
Die gesamte weltpolitische Entwicklung der letzten Jahre ist sehr besorgniserregend und geht natürlich an mir als Künstler nicht spurlos vorbei. Aber gerade in diesen unsicheren Zeiten sind Kunst und Kultur immanent wichtig! Unsere Aufgabe ist es, den Blick neu zu schärfen und dem Publikum ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu vermitteln. Kunst, egal welcher Couleur, verbindet uns alle in Freude, Glück, aber auch im Schmerz und kann gerade in schwierigen Zeiten ein guter Begleiter sein.
PM: Sehr interessant! Siehst Du dann aus diesem Blickwinkel bestimmte Rollen heute ganz anders als noch vor einigen Jahren?
HH: Jede Zeit verlangt ihre eigene Perspektive. Natürlich hat ein Text von Brecht heute eine andere Aktualität als vor einigen Jahren oder gar vor Jahrzehnten. Gute Texte und Gedanken haben immer eine Gültigkeit und werden vor dem jeweiligen aktuellen Hintergrund „neu“ gelesen und bewertet.
PM: Wo wir schon über die Rollen sprechen: Tragik, Schmerz, Hoffnung, um nur einige Eigenschaften zu nennen, kommen in vielen Rollen zusammen. Du musst als Schauspieler alles geben, um das alles in diesen wenigen Minuten dem Publikum zu zeigen. Funktioniert das alles mit der Zeit automatisch oder musst Du jedes Mal aufs Neue üben? Kann man sowas überhaupt erlernen oder kann sowas nur durch die entsprechende Erfahrung kommen?
HH: Ich hatte das große Glück, an der renommierten „Ernst Busch“ Schule zu studieren. Auch wenn die Ausbildung dort sehr hart ist, bekommt man doch das nötige Rüstzeug, um in diesem nicht einfachen Beruf als Schauspieler:in bestehen zu können. Die erlernten Techniken helfen dann, sich den Rollen zu nähern. Zudem kamen im Laufe der Jahre dann natürlich noch die erworbenen Erfahrungen hinzu. Dennoch fühlt man sich bei jeder neuen Rolle wie ein:e Anfänger:in, hat scheinbar vier Arme, acht Beine und weiß nicht wohin damit…
PM: Und ist Dein Umgang mit Deinen Rollen mehr Reproduktion, Rezeption, Interpretation oder doch Reflexion?
HH: Ich denke, es ist eine Mischung aus allen. Natürlich greift man als Schauspieler:in auf eigene Erfahrungen zurück und mitunter gelingt es auch, persönliche Erlebnisse mit Hilfe einer Rolle zu verarbeiten. Aber ich meine das im Sinne von Brecht und nicht die sogenannte Method Acting Methode.
PM: Wo wir schon über die Rollen sprechen: Welche Unterschiede gibt es zwischen Fernseh-, Theater- und Filmschauspielerei? Welcher Schauspieler:innenbereich ist für Einsteiger Deiner Meinung nach am geeignetsten?
HH: Grundsätzlich gibt es natürlich große Unterschiede. Im Theater hast du die Chance, eine Figur in den Proben langsam zu entwickeln und dann in der Vorstellung diese Figur mit einem großen Bogen zu spielen. Die Arbeit vor der Kamera ist mehr eine kleinteiligere Geschichte. Meist wird nicht chronologisch gedreht und es kommt immer auf den Moment an. Es ist ein Spiel mit der Kamera und das verlangt eine sehr differenzierte Spielweise.
Meiner Meinung nach sollte ein:e Anfänger:in in diesem Beruf am Theater beginnen. Dort hat man die Chance, in einem Ensemble zu wachsen und zu lernen. Prinzipiell sollte man vorher auf einer möglichst guten Schauspielschule sein Handwerk erlernen. Leider ist die Berufsbezeichnung Schauspieler:in nicht geschützt und es darf sich jede:r so nennen. Das gilt auch für viele kleine „Schauspielschulen“ und sogenannte „Workshops“, in denen jungen Menschen für viel Geld eine große Karriere versprochen wird und oft Scharlatane am Werk sind.
PM: Vervollständige bitte folgenden Satz: Die größten Illusionen angehender Schauspieler:innen sind …
HH: Schnell reich und berühmt zu werden.
PM: Welche Rolle spielen persönliche Kontakte in diesem Berufszweig?
HH: Sind immer hilfreich. Da die Auseinandersetzung mit einer Rolle ein sehr intimer Prozess ist, sollte man im besten Fall in einem geschützten Rahmen arbeiten können.
PM: Hast Du ansonsten hilfreiche Ratschläge oder Tipps?
HH: Immer neugierig bleiben. An seinen Traum glauben und sich nicht von Rückschlägen entmutigen lassen.
PM: Wie fühlt sich das Theater heute für Dich als erfahrener Schauspieler und Regisseur an? Wie bewahrst Du Dir den Zauber?
HH: Genau wie die Gesellschaft ist auch das Theater immer in Veränderung. Das ist auch gut so, denn sonst bleibt man im scheinbar Bewährten stecken. Die Bedingungen waren früher sicher nicht so hart wie heute. Theater war mehr ein sicherer Raum. Durch den großen Konkurrenzkampf herrscht sehr viel mehr Misstrauen und weniger Kollegialität als früher vor. Die öffentlichen Gelder werden immer knapper und viele Kolleg:innen können von ihrem Beruf allein nicht mehr leben. Allerdings gibt auch zu viele Schauspieler:innen, was an der oben beschriebenen Tatsache liegt, dass diese Berufsbezeichnung nicht geschützt ist.
Ich bin froh darüber, so lange schon in diesem Beruf arbeiten zu können und versuche mir meine Neugier auf Menschen und das Leben zu erhalten. Ich liebe es einfach, zu spielen!
Jedoch würde ich jungen Menschen heute eher von diesem Beruf abraten. Denn nur wer wirklich dafür brennt, wird auch Durststrecken, Absagen, Zurückweisungen und Kritik ertragen.
PM: Du verfügst über tiefe Einblicke in die Institution Theater – in meiner Vorstellung sind das dort noch oft sehr starre, hierarchische Strukturen. Stimmt mein Eindruck? Wie könnten Deiner Meinung nach auch junge Leute mehr ans Theater herangeführt werden?
HH: Natürlich gibt es diese hierarchischen Strukturen. Es kommt dabei immer auf die Bereitschaft an, neue Wege zu gehen. Mitbestimmung ist zwar gut, letztendlich müssen aber immer wieder Entscheidungen getroffen werden. Dadurch sind der Mitbestimmung letztendlich auch natürlich Grenzen gesetzt.
Junge Menschen sollten schon sehr früh an Kunst und Kultur herangeführt werden. Nicht jeder hat als Kind das Glück, wie ich von den Eltern ins Theater mitgenommen zu werden. In der DDR gab es Schulkonzerte, in denen große Orchester in Konzertsäle einluden und den Schüler:innen klassische Musik nahebrachten.
Die Komische Oper Berlin produziert in jeder Spielzeit mindestens eine Uraufführung einer großen Kinderoper. Die Vorstellungen sind alle ausverkauft! Der Bedarf und das Interesse sind also da. Das Burgtheater Wien hat jetzt eine Klassenkasse eingeführt, in die Zuschauer:innen einzahlen können, um auch den Kindern, die sich eine Eintrittskarte nicht leisten können, den Theaterbesuch zu ermöglichen.
Junge Menschen sind das Publikum von morgen, deshalb muss es in unserem eigenen Interesse sein, diese für Kunst und Kultur zu begeistern. Insgesamt wird meiner Meinung nach zu wenig für die musische Erziehung getan.
PM: Danke Dir. Lass uns bitte kurz das Thema wechseln: Welche Rolle spielt KI im Schauspielbereich? Heinrich Schafmeister meint, dass die KI die Arbeit von Schauspieler:innen wegrationalisieren wird.1 Teilst Du diese Meinung?
HH: Da muss ich leider dem geschätzten Kollegen Heinrich Schafmeister zustimmen. Gerade in Zeiten von immer knapper werdenden Kassen wird versucht, überall einzusparen, und da fängt man immer beim Personal an. Das sehen wir mittlerweile in jedem Supermarkt, in denen immer mehr Bedientheken wegfallen und es fast nur noch Selbstbedienungskassen gibt. Nur: In der Kultur geht es um Menschen und Emotionen und ich kann mir nicht vorstellen, dass eine KI Gefühle transportieren kann.
PM: Die Corona-Pandemie hat nicht nur Herausforderungen geschaffen, sondern auch viele Probleme sichtbar gemacht. Unter anderem auch die prekären Arbeitsbedingungen für Kulturschaffende. Einige Studien weisen darauf hin, dass viele Künstler:innen einen Nebenjob zum reinen Überleben brauchen. Auch die Schauspielerin Tina Ruland hat in einem Interview mit der Zeitschrift „Bunte“ auf die prekäre finanzielle Lage ihres Berufsstandes hingewiesen.2 Bedeutet dies, dass es der Gesellschaft einfach an der Vorstellung mangelt, was hinter diesem Beruf steckt und was man in diesem Beruf leisten muss? Oder liegt es eher daran, dass Künstler:innen selbst meist prekäre Arbeitsbedingungen einfach hinnehmen und damit verhindern, dass die Kultur ein kritischer Raum für den Diskurs über Arbeit, Armut und Ausbeutung werden kann?
HH: Ja, leider ist es so, dass viele Künstler:innen nicht von einem Job leben können, wenn sie denn überhaupt in ihrem Beruf arbeiten können. Oft werden Proben nicht bezahlt und die Vorstellungsgagen sind häufig auch nicht üppig. Bedauerlicherweise werden miese Bezahlungen oft einfach hingenommen, um überhaupt arbeiten zu können, sonst kriegt diesen Job halt ein anderer. Dieser Konkurrenzkampf beeinträchtigt nicht unbedeutend die Solidarität untereinander.
PM: Sehr interessant! Die nächste Frage kann ich mir leider nicht ersparen (lacht). PianoMe-Proberäume wurden bereits auch für Filmdreharbeiten gemietet. Was hältst Du generell von unserem PianoMe-Projekt?
HH: Großartig! Gerade freischaffende Künstler:innen sind ja immer wieder auf der Suche nach Proberäumen, die auch bezahlbar sind. Wenn diese, wie bei Euch, dann auch noch mit so tollen Instrumenten ausgestattet sind, ist es ein absoluter Glücksfall. Ich werde auf jeden Fall Euer Projekt unterstützen und weiter in der Öffentlichkeit verbreiten.
PM: Herzlichen Dank Dir für Deine Meinung! Diese ist uns sehr wichtig! Was sind abschließend Deine Ziele für die Zukunft?
HH: Weiterhin offen und neugierig bleiben und natürlich schöne Rollen!
PM: Lieber Hagen, wir danken Dir für das sehr interessante Gespräch! Wir wünschen Dir alles Gute sowie viel Erfolg mit allem, was Du noch vorhast! Wir bleiben in Kontakt.
HH: Sehr gerne! Ich habe Euch zu danken!
- https://www.sueddeutsche.de/kultur/heinrich-schafmeister-interview-arbeitsbedingungen-schauspieler-film-und-fernsehen-synchron-lux.XeFcTX2dh3MLcb2peMWrq6?reduced=true (zugegriffen am 23.05.2025) ↩︎
- https://www.n-tv.de/leute/Tina-Ruland-kann-von-der-Schauspielerei-nicht-leben-article25796686.html (zugegriffen am 27.05.2025) ↩︎
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