PianoMe Talks: Interview mit Cilgia Gadola zum Projekt „Systemcheck“

Interview mit Cilgia Gadola zum Projekt „Systemcheck“

Im Rahmen des Forschungsprojektes »Systemcheck« erforschte der Bundesverband Freie Darstellende Künste e.V. (BFDK) in Kooperation mit dem Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft der Leibniz Universität Hannover, dem ensemble-netzwerk e.V. und dem Institute for Cultural Governance von 2021 bis 2023 die Arbeitssituation von Solo-Selbstständigen und Hybriderwerbstätigen in den Darstellenden Künsten sowie deren soziale Absicherung.

Dass Leben und Arbeiten in der freien Kulturszene nicht einfach sind, dürfte spätestens seit der Corona-Pandemie jedem klar sein. Es beginnt schon damit, dass es in Deutschland keine gesetzlich festgelegte Berufsbezeichnung gibt. Als Künstler:innen werden jene Personen bezeichnet, die in den Bereichen Bildende Kunst, Darstellende Kunst, Angewandte Kunst, Literatur, Musik, usw., künstlerische Arbeiten oder Kunstwerke schaffen. Das zuständige Finanzamt entscheidet, ob eine Tätigkeit als künstlerisch freischaffend oder gewerblich einzustufen ist – ein Verfahren, das in jedem Bundesland unterschiedlich ist. Unsere eigene Recherche im Rahmen des ersten Interviews mit Cilgia hat zudem ergeben, dass vielen aufgrund strenger Zugangsvoraussetzungen und kurzer Fristen der Weg in die Pflichtversicherung (Renten- bzw. Arbeitslosenversicherung) mittels Antrags sogar versperrt bleibt. Andere können sich die einkommensunabhängigen Beiträge schlichtweg nicht leisten oder würden ein so geringes Arbeitslosengeld erhalten, dass sich eine Versicherung wahrscheinlich nicht lohnen würde1.

Unser Eindruck wird durch die Ergebnisse zahlreicher Studien bestätigt. Eine Untersuchung zur Lebens- und Arbeitssituation von Bildenden Künstlerinnen und Künstlern in Bayern aus dem Jahr 2022 zeichnet ebenfalls ein düsteres Bild: Das durchschnittliche Einkommen der Münchner Künstler:innen lag lediglich bei 962 Euro im Monat, deutlich unter den 1350 Euro, die im örtlichen Armutsbericht als Grenze definiert werden2.

Eine im Auftrag des Musikinformationszentrums (miz) im Jahr 2023 durchgeführte Studie ergab, dass fest angestellte Musiker:innen durchschnittlich 2.940 Euro netto im Monat verdienen, während ihre freiberuflichen Kolleg:innen lediglich 2.460 Euro erhalten. Bei jedem fünften Musikschaffenden liegt das Monatseinkommen sogar unter 1.500 Euro. Fast ein Drittel der Befragten hatte Nebenjobs, die nichts mit Musik zu tun hatten3, um sich über Wasser zu halten.

Auch das Forschungsprojekt „Systemcheck“ kam zu dem Ergebnis, dass darstellende Künstler:innen im Schnitt knapp über dem Mindestlohn verdienen.

Den Abschluss des Forschungsprojektes „Systemcheck“ haben wir zum Anlass genommen, erneut ein Interview mit Cilgia Gadola zu führen. Cilgia verantwortete innerhalb des Bundesverbands „Freie Darstellende Künste e.V. (BFDK)“ das Projekt „Systemcheck„. Lesen Sie selbst, was Cilgia zu den Ergebnissen der Studie sagt und welche Empfehlungen das Forschungsteam nun ausgesprochen hat.

PianoMe (PM): Liebe Cilgia, vielen Dank für Deine Zeit! Es ist uns eine große Freude, Dich heute erneut bei uns zu Gast zu haben!

Cilgia Gadola (CG): Danke, ich freue mich auch! Schön, dass PianoMe unser Forschungsprojekt so interessiert begleitet. Da gebe ich gerne ein Update.

PM: Das ist super, danke Dir! Vorstellen müssen wir Dich nicht mehr … dafür aber gratuliere ich Dir erst einmal ganz herzlich zum Abschluss dieses so wichtigen Forschungsprojektes! Bevor wir ins Gespräch kommen, würde ich Dich bitten, folgenden Satz zu beenden: Die Ergebnisse unseres Forschungsprojektes zeigen deutlich, dass…

CG: (lacht). … die viel geäußerte gesellschaftliche Relevanz von Kunst sich nicht in deren sozioökonomischen Lage widerspiegelt.

PM: Das sind sehr deutliche Worte! Danke Dir sowie dem ganzen Team noch einmal für Euren Einsatz! Gehen wir dann direkt zu unserem heutigen Thema über und fangen ganz vorne an. Was waren noch einmal die Hintergründe sowie die Hauptziele dieses Forschungsprojektes?

CG: Der Hintergrund war der Bedarf an Daten zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in den Darstellenden Künsten. Der BFDK und auch andere Interessenverbände wissen schon länger um die schlechte Situation, in der die Erwerbstätigen in den Darstellenden Künsten leben und arbeiten. Um politisch Gehör zu finden, braucht es dieses Wissen in Zahlen und Schwarz auf Weiß. Das Ziel war es entsprechend, diese Daten systematisch zu erheben und ausgehend von den Forschungsergebnissen Handlungsempfehlungen zu formulieren, die die Situation verbessern sollen.

PM: Darüber, dass das Projekt komplett aus Geldern vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) finanziert wurde und dass es sich bei diesem Forschungsprojekt u.a. um einen politischen Auftrag handelte, haben wir bereits in unserem ersten Interview mit Dir gesprochen. Einige der Handlungsempfehlungen richten sich an Politik und Verwaltung von Bund, Land und Kommunen, andere an die Gesetzgebenden. Wie wurden diese strukturiert und wozu soll die Umsetzung dieser Empfehlungen beitragen?

CG: Die Struktur ergab sich aus den Forschungsergebnissen. Wir haben sieben Themenschwerpunkte identifiziert und daraus wiederum sieben Handlungsfelder abgeleitet. Die Handlungsempfehlungen – manchmal sind es zwei oder drei pro Handlungsfeld – sind ganz konkret von den identifizierten Lücken in den Systemen abgeleitet.

Die Umsetzung der Handlungsempfehlungen soll eine Verbesserung für die Akteur:innen in den Darstellenden Künsten herbeiführen. Wenn alle umgesetzt würden, wäre ihre Arbeit fair vergütet und sie wären befähigt, sich sozial ausreichend abzusichern, sei es bei der Altersvorsorge, bei Care-Arbeit oder nach Unfällen.

PM: Ein besonders dringender Handlungsbedarf besteht laut den Ergebnissen des Projektes bei der Altersvorsorge. Konkret heißt es, dass langjährige Erwerbsbiografien in den Darstellenden Künsten aktuell häufig in Altersarmut enden. Was ist die Ursache dieser Tatsache?

CG: Die Ursachen liegen einerseits in den viel zu geringen Beiträgen, die eingezahlt werden (können) und andererseits gibt es viele Akteur:innen in den Darstellenden Künsten, die gar keine Altersvorsorge betreiben. Letztere stammen z. B. aus der Gruppe, die nicht über die Künstlersozialkasse versichert sind. Ein weiterer Grund liegt in dem teils fehlenden Wissen um die Möglichkeiten und die Dringlichkeit einer Altersvorsorge. Dieses und ähnliche Themen müssen unbedingt bereits in den Ausbildungsstätten vermittelt werden.

PM: Die Verbesserung der sozialen Absicherung für freischaffende Künstler:innen der Darstellenden Künste war ebenfalls eines der Themen unseres ersten Interviews mit Dir. Wir haben damals auch darüber gesprochen, dass die unpassende Versicherung in Zeiten der Arbeitslosigkeit für Selbstständige nur eines der vielen Probleme in diesem Bereich ist. Zu welchen Ergebnissen seid Ihr nun gekommen und welche konkreten Handlungsempfehlungen habt Ihr zu diesem Problembereich ausgesprochen?

CG: Zu diesem Thema haben wir drei Empfehlungen formuliert. Die erste bezieht sich auf den Zugang zur bereits bestehenden freiwilligen Arbeitslosenversicherung (ALV) für Selbstständige. Der Zugang ist nämlich für diejenigen versperrt, die nie einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen sind. Außerdem muss man sich in den ersten drei Monaten nach Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit hierfür anmelden. Diese Zugangsvoraussetzungen resultieren daraus, dass es sich im Grunde um den Übergang von einem angestellten Verhältnis in die Selbstständigkeit handelt.

In der zweiten geht es darum, dass Hybriderwerbstätige ihre Beiträge zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung und die Pflichtbeiträge aus der Arbeitslosenversicherung summieren können.

Außerdem empfehlen wir die Einrichtung einer Absicherung gegen atypische Einkommensausfälle als eigenständige verpflichtende Säule in der Künstlersozialversicherung. Diese soll vor Ausfällen, wie sie während der Coronapandemie auftraten, schützen.


PM: Was steckt hinter Eurem Vorschlag bezüglich einer „Versorgungskammer“ für freischaffende Künstler:innen? Ich gehe davon aus, dass die Basis dieses Vorschlages ähnliche Konstrukte für andere freiberufliche Berufsgruppen (Ärzte, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Anwälte etc.) bildeten. Dabei refinanziert sich zum Beispiel die Ärztekammer überwiegend durch Kammerbeiträge der Mitglieder. Die Höhe der Beiträge wird durch die Beitragsordnung bestimmt. Die Einstufung wiederum erfolgt im Rahmen einer Selbstveranlagung mit der Nachweispflicht der ärztlichen Einkünfte. Schlagt Ihr nun ein ähnliches Konzept für die freischaffenden Künstler:innen vor?

CG: Hier geht es uns darum, dass auch selbstständige Kunstschaffende die Möglichkeit haben, sich zusätzlich abzusichern. Sie können sich bisher tatsächlich schon in der Bayerischen Versorgungskammer versichern, nur lohnt sich das bei den niedrigen Beiträgen nicht. Wir empfehlen eine Kammer für Selbstständige innerhalb der KSK, sodass auch diese Beiträge bezuschusst werden. Es ist interessant, dass Du die Kammern für Anwälte, Ärzt:innen etc. ansprichst. Die funktionieren deshalb gut, weil sich Personen aus meist gut bezahlten Branchen zusammentun. Wenn sich Künstler:innen zusammentun, würde das vermutlich zu keiner ausreichenden Vorsorge führen. Solidarischer wäre es, wenn alle in eine gemeinsame Kasse einzahlen.

PM: Bereits seit 2015 setzt sich der BFDK für eine einheitliche Honoraruntergrenze ein. Ist so eine Grenze auch das Thema Eurer Empfehlungen? Zur besseren Einordnung: Was bedeutet eine verbindliche Umsetzung von Basishonoraren in den Freien Darstellenden Künsten für die Länder, Kommunen und Veranstalter:innen? Welche Umsetzungsstrategien schlagt ihr vor?

CG: Unsere allererste Empfehlung lautet: „Wir empfehlen den Kulturverwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen, die Vergaberegeln für die Kulturförderung so anzupassen, dass verbindliche soziale Standards und transparente Vergütungskriterien, orientiert am TVöD für Erwerbstätige in geförderten Organisationen, Institutionen und Projekten, Fördervoraussetzung sind.“ Faire Honorare bedeuten, dass die Kulturetats erhöht werden müssen. Uns ist dabei bewusst, dass das in den aktuellen Zeiten eine Empfehlung ist, die nicht besonders aussichtsreich wirkt. Aber die Alternative wäre, dass eine professionelle Szene, die gerne als unverzichtbar für eine demokratische Gesellschaft bezeichnet wird, teilweise nah an der Armutsgrenze agiert und sich nicht eigenständig vorsorgen kann. Und wer während dem Erwerbsleben nicht vorsorgen kann, ist danach auf Unterstützung angewiesen. Für uns führt da einfach kein Weg dran vorbei.

PM: Danke Dir! M.E. stellt die Honoraruntergrenze nur eine Seite der Medaille dar. Was ist mit den Ausfallhonoraren, die u.a. Krankheitsfälle auffangen sollen und vor allem auch die Honorierung aller Arbeitsphasen (Üben, Projektentwickeln, Auftreten, etc.) berücksichtigen sollen? Habt Ihr auch zu diesem Thema konkrete Handlungsempfehlungen ausgearbeitet?

CG: Zu Förderungen haben wir – bis auf eine – keine Empfehlungen formuliert. Das gehörte nicht zum Auftrag von „Systemcheck“. Aber weil die Förderprogramme sehr eng mit den von uns bearbeiteten Themen zusammenhängen, weil ein Großteil in den Freien Darstellenden Künsten von öffentlicher Förderung finanziert ist, haben wir uns trotzdem Gedanken gemacht. Ausfallhonorare müssen auf jeden Fall ermöglicht werden und es braucht Förderprogramme für alle Arbeitsphasen, die zum künstlerischen Schaffen dazugehören. Im Rahmen von NeustartKultur wurden hierzu viele gute Lösungen entwickelt, die leider nicht alle fortgeführt werden.

PM: Anknüpfend an unser erstes Interview: Mir ist schon klar, dass Systeme verschiedener Länder nicht unmittelbar auf Deutschland übertragen werden können. Wurden überhaupt Erfahrungen anderer Länder beim Forschungsprojekt und vielleicht auch bei der Formulierung der Handlungsempfehlungen berücksichtigt?

CG: Ja, für unsere zweite Handlungsempfehlung haben wir Formulierungen aus Belgien übernommen. Diese beziehen sich auf die kreativ-technischen und kreativ-organisatorischen Tätigkeiten, die in den personellen Anwendungsbereich der Künstlersozialkasse aufgenommen werden sollen.

PM: Liebe Cilgia, wie geht es jetzt mit dem Projekt und vor allem mit Euren Handlungsempfehlungen weiter?

CG: In den nächsten Wochen, Monaten und wahrscheinlich Jahren wird es darum gehen, die Entscheidungsträger:innen für unsere Vorschläge zu gewinnen und diese gemeinsam umzusetzen. Da hilft es, wenn wir unsere Forschungsergebnisse an möglichst vielen Stellen vorstellen und diskutieren können.

PM: Vorschläge zur Umsetzung oder Finanzierung waren nicht Teil Eurer Handlungsempfehlungen. Heißt das nun, dass sich die Adressaten mit diesen Punkten auseinandersetzen sollen oder wäre es vielleicht sinnvoller, zumindest gewisse Ideen oder Ansatzpunkte mit auf den Weg zu geben?

CG: Die Adressaten setzen sich im Idealfall mit uns an einen Tisch und wir suchen gemeinsam nach Möglichkeiten, Verbesserungen herbeizuführen. Um ans Ziel zu kommen, gibt es ggf. verschiedene Wege. Für die Auslotung dieser Ziele stehen wir bereit. Im Rahmen der Fachkonferenz haben Mitglieder aus dem Ausschuss für Kultur und Medien des Bundestags und dem Ausschuss für Arbeit und Soziales angekündigt, gemeinsam unsere Empfehlungen zu diskutieren. Darauf sind wir schon sehr gespannt.

PM: Liebe Cilgia, wir danken Dir für das sehr interessante Gespräch! Wir wünschen Dir alles Gute und weiterhin viel Erfolg auf all Deinen Wegen! Wir bleiben in Kontakt.

CG: Sehr gerne! Vielen Dank für Euer Interesse und das interessante Gespräch! Und wer die zusammengefassten Ergebnisse und unsere Handlungsempfehlungen in Gänze lesen möchte, der kann das in unserer Abschlussdokumentation unter diesem Link tun: https://darstellende-kuenste.de/sites/default/files/2023-10/BFDK_Systemcheck_Abschlusspublikation.pdf.

Bildernachweis:

Das Hauptbild: Fotografie Jörg Metzner

Projektbild: KENDIKE

  1. Vgl. u.a. Deutscher Gewerkschaftsbund: https://www.dgb.de/themen/++co++aaf45000-5415-11eb-abd0-001a4a160123 (letzter Abruf: 2. November 2022) und „Unterm Durchschnitt. Erwerbssituation und soziale Absicherung in den darstellenden Künsten. (2023): https://darstellende-kuenste.de/sites/default/files/2023-08/230824_DP_Unterm_Durchschnitt_0.pdf ↩︎
  2. https://www.bbk-muc-obb.de/sites/default/files/Studio_Muenchen_Online_A4_1.pdf (letzter Abruf: 3. November 2023). ↩︎
  3. https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/musiker-kuenstler-arbeit-einkommen-nebenjob-100.html (letzter Abruf: 3. November 2023). ↩︎