Die Anschuldigungen bezüglich Machtmissbrauches in der Kulturbranche sind nicht neu. Viele Kulturschaffende leben permanent unter Druck, während sie um die begrenzten verfügbaren Arbeitsplätze kämpfen. Der Wettbewerbsdruck ist immens, insbesondere in Folge der Corona-Pandemie, als die gesamte Branche praktisch über Nacht zum Stillstand kam und Tausende von Familien vor dem Nichts standen. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass die Kulturskandale der vergangenen Jahre, sogar vor der Pandemie, durch Fehlverhalten und systematischen Machtmissbrauch geprägt waren. Die Corona-Krise hat lediglich viele dieser Probleme offengelegt. Der Druck scheint mittlerweile so erdrückend zu sein, dass langsam, aber sicher, das Schweigen gebrochen wird.
Das Thema wurde unter anderem vor zwei Jahren im Rahmen von Recherchen von rbb-Reportern diskutiert. Zwischen Ende April und Mitte Juni 2023 nahmen über 750 Bühnenkünstler:innen aus ganz Deutschland an einer Umfrage der rbb-Reporter teil. 90 % gaben an, persönlich schon mit irgendeiner Form von Machtmissbrauch konfrontiert gewesen zu sein. In knapp 130 Fällen wurde sexueller Missbrauch angegeben, während weitere Formen des Machtmissbrauchs, wie willkürliche Beendigungen von Arbeitsverhältnissen, genannt wurden.1 Die NDR-Dokumentation im Februar 2024 beleuchtete erneut den Machtmissbrauch in der Theater- und Filmbranche. Auch hier berichteten einige Schauspieler:innen von körperlichen Übergriffen. Die Dokumentation präsentierte mehrere neu recherchierte Beispiele aus der Theater- und Filmwelt und fügte diese Berichte zusammen, um einen grundlegenden Befund über die Branche zu liefern.2
Im Jahr 2023 kündigte Kulturstaatsministerin Claudia Roth an, die Branche durch die Einführung eines Verhaltenskodexes in die Pflicht nehmen zu wollen.3 Aufgrund ihrer Struktur erscheint die Kultur- und Medienbranche offensichtlich anfällig für Machtmissbrauch, sexualisierte Übergriffe und den Verstoß gegen Arbeitsschutzregeln zu sein, so die Einschätzung von Frau Roth. Ihr erster Schritt besteht daher in einer verbindlichen Selbstverpflichtung der Branche.
Im Sommer 2023 startete deshalb der Deutsche Kulturrat einen Dialogprozess zum Thema „Respektvolles Arbeiten in Kunst, Kultur und Medien“, der in einer Positionierung des Rates münden soll. Bis zum Sommer 2024 soll das geplante Positionspapier verabschiedet werden und das Ergebnis soll noch vor der Sommerpause 2024 Kulturstaatsministerin Claudia Roth vorgelegt werden.
Die zahlreichen investigativen Recherchen, Umfragen und laufenden Prozesse zeigen bereits die hohe Relevanz des Themas und einen erkennbaren Handlungsdruck.
Doch stimmt unser Eindruck? Wir hatten das Glück, Lena Krause für ein Interview zu gewinnen, um Einblicke in dieses Thema zu erhalten. Als Geschäftsführerin des FREO – Freie Ensembles und Orchester in Deutschland e.V. und ehemalige Sprecherin der Allianz der Freien Künste bringt sie eine Fülle von Erfahrungen und Fachwissen mit sich. Ihre beruflichen Stationen, darunter die Geschäftsführung des Atelier Neue Musik HfK Bremen, das Management des ensemble mosaik Berlin und ihre Mitarbeit bei den Darmstädter Ferienkursen, sowie ihre Mitgliedschaft im Präsidium des Deutschen Musikrates und ihre Vertretung der Sektion Musik im Deutschen Kulturrat, zeugen von ihrer tiefen Verwurzelung in der Kulturbranche. Darüber hinaus war sie als Beiratsmitglied am Forschungsprojekt „Systemcheck“ des Bundesverband Freie Darstellende Künste e.V. beteiligt und ist Teil des oben erwähnten Dialogprozess „Respektvoll Arbeit in Kunst, Kultur und Medien“ des Deutschen Kulturrat. Ihre Perspektiven und Empfehlungen zu diesem Thema sind daher von unschätzbarem Wert. Lesen Sie selbst, was Lena zu sagen hat und welche Handlungsempfehlungen sie ausspricht.
PianoMe (PM): Liebe Lena, vielen Dank Dir für Deine Zeit! Es ist uns eine große Freude, dass Du zu einem Interview mit PianoMe zu so einem wichtigen Thema bereit bist!
Lena Krause (LK): Sehr gerne!
PM: Das ist toll, danke! Zu Beginn unseres Gespräches stellen wir unsere Gäste unseren Leserinnen und Lesern kurz vor: Du bist Mitglied im Präsidium des Deutschen Musikrates und stellvertretende Sprecherin der Sektion Musik im Sprecherrat des Deutschen Kulturrats und setzt Dich für die Interessen der Künstler:innen ein. Eigentlich die ideale Ansprechpartnerin zu unserem heutigen Thema.
LK: Das hoffe ich! (lacht). Mich bewegt das Thema privat, im Berufsleben, aber auch in meinem Ehrenamt schon sehr lange. Das ist wie ein konstantes Rauschen oder ein unangenehmer Tinnitus, der nicht weggehen will. Insofern bin ich Euch auch sehr dankbar, dass Ihr dem Thema eine weitere Plattform bietet.
PM: Danke Dir! Ist wirklich sehr spannend und danke Dir für Deinen Einsatz! Gehen wir dann direkt zu unserem heutigen Thema über. Eigentlich ist dieses nicht neu. Bereits vor Corona herrschten diese Missstände, wenn ich das so nennen darf. Über sexuelle Übergriffe wird spätestens seit #MeToo immer mal wieder gesprochen. Welche anderen Formen von Machtmissbrauch tauchen im deutschen Kulturbetrieb denn Deiner Erfahrung nach aus Teilnahmen an Diskussionen in diversen Gremien gehäuft auf?
LK: Machtmissbrauch findet in sehr unterschiedlichen Ausprägungen statt. Er ist oft auch schleichend, wird im Moment selbst vielleicht sogar nicht als solcher erkannt. In den Gesprächen, in denen ich bin – nicht nur in Gremien, sondern auch in anderen Netzwerken oder im persönlichen Austausch – geht es tatsächlich sehr oft um Machtmissbrauch in Form von, ich nenn das jetzt mal ganz allgemein, „unprofessionellem Verhalten“. Und zwar bewusst oder unbewusst. Anschreien, beschimpfen, beleidigen – die ganze Palette des „sich im Ton vergreifen“, die dann gerne unter Aussagen wie „So sind die Künstler halt“ oder in einer Schuld-Umkehr („Du musst dir einfach ein dickeres Fell zulegen“) legitimiert werden. Es geht dabei aber auch ganz klar um das Ausnutzen der eigenen Machtposition gegenüber Menschen, die in der Hierarchie unter einem stehen – um ihnen bewusst zu schaden und/oder um sich bewusst einen eigenen Vorteil zu verschaffen. Das äußert sich dann in verbalen und körperlichen Drohungen und Gewalt, Schikanen etc.
PM: Sehr interessant! Wo wir schon über die Gremiendiskussionen sprechen: Wird in solchen Sitzungen auch über die Ursachen diskutiert? Der Hintergrund meiner Frage ist Folgender: Ich höre immer mal wieder, dass Künstler:innen darüber berichten, dass diese nach deren Erzählungen über einen möglichen Machtmissbrauch gefragt werden, ob es überhaupt ein Problem gab. Wird das missbräuchliche Verhalten nicht verharmlost?
LK: Es findet auf jeden Fall eine Verharmlosung statt. Ich erlebe das leider immer wieder in den verschiedensten Gremien. Da wird dann wirklich infrage gestellt, OB es überhaupt ein Problem gibt. Das Deckmäntelchen „Kunstfreiheit“, die Eigenheiten eines „künstlerischen Genies“ werden dann vorgeschoben. Oder es werden verschiedene Formen von Machtmissbrauch gegeneinander abgewogen – so nach dem Motto „Das eine kommt ja nicht so oft vor, also müssen wir uns damit nicht auseinandersetzen“. Ich finde das extrem schwer zu ertragen. Denn es wird dabei völlig außer Acht gelassen, dass manches statistisch „nicht so signifikant ist“, weil die Opfer sich nicht trauen, ihre Erfahrungen zu teilen. Zu groß sind die Abhängigkeiten; zu groß sind die Ängste vor beruflichen und privaten Einschnitten und Verlusten. Und damit sind wir eben auch direkt bei den Ursachen. Die Kulturbranche ist ein System von Abhängigkeiten, Machtkonzentration und ungesunden Hierarchien. All das ist ein Nährboden für Machtmissbrauch. Wie sich das System aufbrechen und verändern lässt, welche präventiven Maßnahmen ergriffen werden können und wie endlich konsequent Täter:innen zur Verantwortung gezogen werden: Darüber würde ich insbesondere in Gremien, die sich eine Bekämpfung von Machtmissbrauch auf die Fahnen geschrieben haben, gerne mehr sprechen.
PM: Ich frage mich, wie systematisch der sexuelle Missbrauch verbreitet ist. Im Rahmen einer Umfrage von rbb-Reportern aus dem vergangenen Jahr wurde in knapp 130 Fällen angegeben, dass es sich beim Betroffenen um sexualisierten Missbrauch handelte. Auch anderen Studien sind Fälle des sexualisierten Missbrauches zu entnehmen, sei es eine geforderte sexuelle Gegenleistung für eine Rolle, einen Auftritt oder ein Engagement. Das hört sich schon systematisch und vor allem geplant an. Stimmt mein Eindruck? Was kann man den Ergebnissen dieser Studien entnehmen?
LK: Wenn jemand für das berufliche Weiterkommen einer Person eine sexuelle Gegenleistung von eben dieser Person einfordert, dann ist das natürlich geplant! Und bei der von Dir genannten rbb-Umfrage ist es wichtig zu wissen, wie viele Personen sich an der Umfrage beteiligt haben. Laut Tagesschau-Bericht rund 750 Bühnenschaffende, von denen knapp 130 angegeben haben, dass es sich um sexualisierten Missbrauch gehandelt hat. Das sind ca. 17,3%, also fast jede 5. Person. Es handelt sich also nicht um Einzelfälle. Allein schon die Umfrage des rbb zeigt meines Erachtens, dass Machtmissbrauch von den Strukturen und Systemen in der Kulturbranche „befeuert“ wird.
PM: Heißt das nun, dass das Phänomen flächendeckend ist oder konzentriert sich Machtmissbrauch doch auf einige wenige Bereiche oder Personen?
LK: (seufzt) Ich bin der Meinung, dass wir von einem flächendeckenden Phänomen ausgehen müssen, in dem einzelne Personen aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung in der Kulturlandschaft immer wieder eine zentrale Rolle spielen. Diese sind aber immer nur die Spitze eines Eisbergs, das dürfen wir nicht vergessen! Und wir müssen auch der Realität ins Auge blicken, dass es sich auf alle Bereiche bezieht. Egal in welche Branche oder Sparte im Kulturbereich wir unseren Blick werfen oder ob wir in den Bereich der Ausbildung und des Studiums oder in das professionelle Berufsleben schauen.
PM: Stimmt der Eindruck, dass der Missbrauch mehrheitlich von Männern ausgeht? Würde eine Frauenquote für gewisse Positionen Deiner Meinung nach Abhilfe schaffen? Wenn ja, ist das Deiner Meinung nach überhaupt realisierbar?
LK: Persönlich gesprochen, habe ich einen ähnlichen Eindruck. Ich bin hier aber vorsichtig in meiner Antwort, da ich den Eindruck eben nicht datenbasiert untermauern kann. Ich kenne auch Fälle und Situationen, in denen es Frauen waren, die durch machtmissbräuchliches Verhalten aufgefallen sind. Ich finde es grundsätzlich auch falsch, wenn wir das Problem bzw. die Diskussion über Lösungen des Problems auf eine Frage des Geschlechts reduzieren. Damit würden wir all denjenigen Männern unrecht tun, die sich ordentlich verhalten und gegen Machtmissbrauch stark machen.
Insofern ist auch die Einführung einer Frauenquote als Maßnahme zur Vermeidung von Machtmissbrauch meines Erachtens nicht der Weisheit letzter Schluss – jedenfalls nicht, wenn wir sie nur singulär betrachten und nicht gemeinsam mit anderen Maßnahmen denken. Durch eine Frauenquote ändert sich ja beispielsweise nichts daran, dass sehr viel Macht häufig auf einzelne Personen konzentriert bleibt.
PM: Wir haben jetzt viel über sexualisierten Machtmissbrauch gesprochen. Diversen Studien ist aber auch zu entnehmen, dass u.a. (befristete) Verträge sowie geringe Gagen als ein weiteres zentrales Problem des Machtmissbrauchs angesehen werden. Stimmst Du diesem Eindruck zu? Was sind Deine bisherigen Erkenntnisse?
LK: Absolut. Befristete Verträge, geringe Gagen und – wenn ich das ergänzen darf – die große Bedeutung von Netzwerken in der Kulturbranche, aber auch die Konzentration von Macht auf Einzelpersonen, führen zu starken Abhängigkeiten. Und extreme Abhängigkeiten sowohl von einzelnen Personen, aber auch von Organisationen, sind ein Nährboden für Machtmissbrauch.
PM: Es kommt mir aus meinen Gesprächen mit den Künstler:innen so vor, dass gerade die jungen Künstler:innen, die am schlechtesten bezahlt werden, auch am schlechtesten behandelt werden. Stimmt mein Eindruck?
LK: Zunächst einmal muss ich hier eine kleine Korrektur vornehmen. Es sind leider nicht die jungen Künstler:innen, die per se am schlechtesten bezahlt werden. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass das Einkommen auch bei über 60-Jährigen sinkt4. Insofern ist schlechte Bezahlung durch alle Generationen und Altersgruppen hindurch präsent. Ich würde Deinem Eindruck aber trotzdem zustimmen – nur nicht unbedingt auf der Grundlage der Bezahlung, sondern aufgrund der Situation, in der junge Künstler:innen sich befinden: Sie stehen am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn, haben Träume, Wünsche und Visionen und wollen sich eine Existenz in der Kulturbranche aufbauen. Doch hat die Aufklärung über machtmissbräuchliches Verhalten, über Grenzen oder auch ihre Rechte im Studium vielleicht kaum eine Rolle gespielt. Schlimmstenfalls haben sie selbst im Studium bereits machtmissbräuchliches Verhalten erfahren oder erlebt.
PM: Wie sieht es an deutschen Musikhochschulen aus? Beginnt der Machtmissbrauch in der Kulturbranche nicht schon in der Ausbildung? Zumindest deuten die Ergebnisse einer nicht repräsentativen Umfrage aus dem Jahre 2023 darauf hin. 414 Vorfälle von 108 Studierenden in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind von Juni bis Oktober 2023 bei der Initiative gegen Machtmissbrauch angezeigt worden.5 Überrascht Dich die Anzahl der geschilderten Fälle aus der Umfrage?
LK: Die Zahl überrascht mich nicht. Genauso wie im professionellen Musikleben, gibt es auch in unseren musikalischen Ausbildungseinrichtungen Strukturen, die den Studierenden nicht ausreichend Schutz bieten.
PM: Der Vorstand der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen hat im März dieses Jahres eine Stellungnahme zur Berichterstattung über Machtmissbrauch an Musikhochschulen veröffentlicht. Ein fundiertes Positionspapier sowie eine Abstimmung über koordinierte Maßnahmen der RKM-Hochschulen stehen auf der Agenda für die RKM-Sommerkonferenz im Mai.6 Erwartest Du praxisnahe Änderungen? Stimmt mein Eindruck, dass über dieses Thema zu wenig diskutiert sowie berichterstattet wird?
LK: Ich erhoffe mir praxisnahe Änderungen. Zunächst einmal, denke ich, ist es extrem wichtig und auch erst einmal ein gutes Zeichen, dass sich die Rektorenkonferenz der Musikhochschulen öffentlich dazu geäußert hat. Darauf kann man sich dann auch beziehen, sollte sich nichts ändern.
Und die Rolle der Berichterstattung? Eine verstärkte Berichterstattung würde auf jeden Fall helfen, da mehr Öffentlichkeit für das Thema hilfreich dabei sein kann, politische Aufmerksamkeit zu generieren. Auch um dieses schillernd glamouröse Bild einer Welt von Stars und Sternchen aufzubrechen und der Öffentlichkeit die harte Realität zu zeigen, die ein Berufsleben in der Kulturbranche mit sich bringt. Dieses romantisierte Bild vom Künstler:innen-Dasein, die alle einfach nur ihr Hobby zum Beruf gemacht haben, vom Applaus des Publikums leben und durchweg glücklich sind, ist ja immer noch sehr weit verbreitet. Das trägt natürlich auch dazu bei, dass Dinge nicht gesehen oder übersehen werden.
PM: Es hat sich eigentlich in den vergangenen Jahren zumindest einiges verändert: Es wurden einige Vertrauensstellen eingerichtet. Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth kündigte in 2023 an die Branche mit einem Verhaltenskodex in die Pflicht nehmen zu wollen. Haben all diese Veränderungen dazu geführt, dass das Schweigen gebrochen wurde? Oder ist der Druck doch einfach zu hoch geworden?
LK: Das Vorhaben mit dem Verhaltenskodex, also der Vorstoß von Claudia Roth, den Du ansprichst, ist ja noch nicht abgeschlossen. Der entsprechende Dialogprozess, der sich über einen solchen Verhaltenskodex auseinandersetzt, läuft ja aktuell noch. Ich bin aber ehrlicherweise ein bisschen zwiegespalten, was so einen Verhaltenskodex angeht. Zwar merke ich, dass es ein hilfreiches Instrument ist, um für das Thema zu sensibilisieren und Organisationen und Personen in die Verantwortung zu nehmen. Ich habe auch den Eindruck, dass ein Verhaltenskodex dazu beitragen kann, dass mehr Menschen sich trauen, ihr Schweigen zu brechen. Denn wenn sich eine Organisation beispielsweise einen eigenen Verhaltenskodex gibt, in dem sie auch in der Öffentlichkeit und für jeden erkennbar nochmal benennt, wie sie miteinander arbeiten und umgehen wollen, was geht und was absolut nicht geht und wie sie Betroffene schützen wollen, dann gibt es natürlich etwas, worauf man sich als Betroffene:r auch beziehen kann.
Gleichzeitig frage ich mich aber auch: Wie oft müssen wir noch aufschreiben, was doch schon so oft gesagt wurde und was eigentlich allen klar sein müsste? Wann diskutieren wir endlich intensiv darüber, wie wir die Strukturen und Systeme unserer Kulturbranche verändern müssen, um Machtmissbrauch vorzubeugen, zu verhindern und ihm den Nährboden zu entziehen? Wie wir Opfer, Betroffene und Zeug:innen schützen und ihnen Mut geben können, von ihren Fällen zu berichten? Wie wir geschützte Räume schaffen können und anonyme Anlaufstellen aufbauen bzw. besser ausstatten müssen? Wie wir den Menschen in der Kulturszene das Vertrauen in die eigene Branche zurückgeben können, dass das System nicht gegen sie arbeitet, sondern für sie? Ein Verhaltenskodex ist keine abschließende präventive Maßnahme. Er ist immer nur ein erster Schritt und er verhindert am Ende nicht den Machtmissbrauch. Ein Mensch, der seine Machtposition ausnutzen will, wird das auch dann tun, wenn die Organisation einen Verhaltenskodex hat. Konsequenzen verhindern machtmissbräuchliches Verhalten auch nur bedingt. Sie sorgen aber immerhin dafür, dass Täter:innen ihr Fehlverhalten zu spüren bekommen und wirken langfristig hoffentlich abschreckend.
PM: Wo wir schon über die Strukturen sprechen: Was sind Deines Erachtens die aktuellen eindeutigen strukturellen Defizite? Was macht Deines Erachtens die Veränderungen so schwierig?
LK: Wie ich bereits sagte, ist die Kulturbranche ein System von Abhängigkeiten, Machtkonzentration und ungesunden Hierarchien. Gerade das Thema „Machtkonzentration auf einzelne Personen“ finde ich hier besonders wichtig. Es gibt ja nicht ohne Grund das Sprichwort „Der Fisch stinkt vom Kopf her“. Ich bin der Meinung, dass wir neue Leitungsmodelle brauchen, in denen Macht auf mehrere Schultern verteilt wird, zum Beispiel in Form von Leitungsteams anstatt einer einzelnen Intendanz. Gleichzeitig muss aber auch endlich verinnerlicht werden, dass eine Führungsposition auch Führungskompetenzen bei den Menschen, die diese ausfüllen, voraussetzt. Auch ein Leitungsteam wird nicht automatisch besser funktionieren, wenn es nicht entsprechende Fähigkeiten in Führungsfragen hat. Und damit meine ich nicht an erster Stelle die künstlerisch-kreativen Qualitäten einer Person oder eines Teams. Vielmehr geht es um Aspekte von Kommunikation, Kritikfähigkeit, Personalführung, Fähigkeiten im Bereich Konfliktmanagement, Moderation, Transparenz etc. Wir brauchen deshalb verpflichtende Schulungen und Weiterbildungen für Personen in Führungspersonen. Wir brauchen auch mehr Weiterbildungs- und Empowerment-Programme, die über die Rechte und über die Grenzen in der professionellen Zusammenarbeit aufklären und Wissen vermitteln. Und zu guter Letzt brauchen wir mehr unabhängig finanzierte, gut ausgestattete, breit aufgestellte und anonyme Vertrauens- und Beratungsstellen. Die THEMIS-Vertrauensstelle ist so eine solche Einrichtung. Sie ist aber zu sehr von den Mitteln der Branchenverbände abhängig. Hier erwarte ich eine Weiterentwicklung der THEMIS Vertrauensstelle und eine bessere finanzielle Ausstattung vom Bund und ggf. auch den Ländern.
Die Veränderung ist meines Erachtens so schwierig, weil über Jahre hinweg zu wenig passiert ist. Es gibt kein Vertrauen darin, dass, wenn man sich traut, das machtmissbräuchliche und übergriffige Verhalten von „Kolleg:innen“ und Vorgesetzen anzusprechen, auch entsprechenden Konsequenzen folgen und einem geholfen wird.
PM: Mal unter uns… Würde es nicht bereits eine große Verbesserung bedeuten, wenn mal „kleine Dinge“ einfach richtig umgesetzt werden? Was meine ich damit: Wäre das nicht eine Idee, Fördergeber:innen, Auftraggeber:innen sowie alle Institutionen, die Subventionen erhalten, stärker in die Verantwortung zu nehmen? Zusätzlich könnte mehr Transparenz für solche Institutionen zur Pflicht werden: Transparente Finanzierungsberichte; Berichterstattung über gewonnene Aufträge; Berichterstattung über Spendengeber etc. Gibt es dahingehend Überlegungen in der Branche? Oder denke ich zu kurz?
LK: Aber wie sollten die von Dir genannten Dinge dazu beitragen, machtmissbräuchliches Verhalten zu verhindern? Die von Dir genannten Dinge sind ja bei öffentlichen Einrichtungen teilweise sogar schon einsehbar. Wir können in den Haushaltsplänen und Statistiken nachschauen, wie viele öffentliche Zuschüsse beispielsweise in unsere Stadt- und Staatstheater oder auch in unsere Musikhochschulen gehen. Das hat bisher aber auch niemanden davon abgehalten, Mitarbeiter:innen, Kolleg:innen oder Studierende zu schikanieren.
PM: Ich meinte eher zum Beispiel die Institutionen, die einerseits vom Bund oder Ländern bereits gefördert werden und auf der anderen Seite an den Ausschreibungen des Bundes oder Länder teilnehmen oder ggf. selbst an den Entscheidungen bzgl. der Fördergelder an die Antragsteller aus dem eigenen Netzwerk partizipieren. By the way: Welchen Stellenwert haben generell die aktuellen Fördersystematiken in der Branche? Mir wird immer mal wieder erzählt, dass in der Branche der Eindruck entsteht, dass die Fördermittelvergabe ein gewisses Netzwerk voraussetzt. Ich will nichts unterstellen und nicht zu pauschal werden. Es entsteht bei mir jedoch der Eindruck, dass auch hier in gewissem Maße ein Machtmissbrauch stattfindet. Irre ich mich?
LK: Ich denke schon, dass da ein Fünkchen Wahrheit drinsteckt. Bei Förderverfahren haben wir ja immer zwei Seiten: eine Seite beantragt und braucht das Geld; und eine Seite vergibt das Geld – z.B. über Juryverfahren. Und ich möchte nicht ausschließen, dass es Jurymitglieder gibt, die dann z.B. einen Antragssteller, zu denen sie enge berufliche oder auch private Verbindungen haben, eher unterstützen und so zum Erfolg verhelfen. Das ist in gewisser Weise schon eine Form von Machtmissbrauch, nämlich insofern, dass das Jurymitglied sein Neutralitätsgebot verletzt. Ich sitze selbst immer wieder in Jurys, in der Projektfördergelder vergeben werden. Und aufgrund meiner Tätigkeit kommt es natürlich auch immer wieder vor, dass ich mit Antragsteller:innen sehr eng beruflich verbunden bin. Das gebe ich dann aber frühzeitig bekannt und enthalte mich wegen Interessenskonflikt sowohl in den Beratungen und der Diskussion des Antrags als auch der Entscheidung. Das sollte Standard sein – ist es wahrscheinlich aber nicht überall. Grundsätzlich sind Juryverfahren noch immer zu intransparent. Hier würden klar formulierte Regeln für die Arbeit von Jurys, die auch öffentlich einsehbar sind, und die Veröffentlichung der Namen der Jurymitglieder SPÄTESTENS nach der Jurysitzung auf jeden Fall für mehr Transparenz sorgen.
PM: Liebe Lena, was würdest Du unseren Leser:innen zuletzt empfehlen, die sich gerade mit dem Thema auseinandersetzen oder sich diesbezüglich Gedanken bzw. Sorgen machen? Vielleicht hast Du ein paar generelle Tipps parat? Auf der anderen Seite hast Du jetzt die Gelegenheit, unsere Leser:innen darüber zu informieren, wie diese Eure Diskussionen im Rahmen diverser Gremien ggf. unterstützen können.
LK: Ich will es nicht Tipp nennen. Aber mein Wunsch und meine Bitte an Eure Leser:innen ist, mutig zu sein und sich zu trauen, das Schweigen zu brechen. Das muss gar nicht öffentlich sein. Das kann auch in einem vertraulichen Gespräch mit Freunden, Familie oder Kolleg:innen passieren. Ich weiß, dass das total abgedroschen klingt. Aber wenn wir nicht anfangen, darüber zu sprechen und das Fehlverhalten von Menschen und Organisationen zu benennen, dann wird sich langfristig nichts ändern. Wir brauchen Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit. Und wer konkret Hilfe sucht, dem möchte ich die Seite der THEMIS Vertrauensstelle empfehlen: https://themis-vertrauensstelle.de und auch die Angebote bzw. die Seite vom Bündnis „Gemeinsam gegen Sexismus“: https://www.gemeinsam-gegen-sexismus.de
PM: Vielen Dank Dir! Liebe Lena, wir danken Dir für das sehr interessante Gespräch! Wir wünschen Dir alles Gute und viel Erfolg bei allem, was Du noch vorhast! Wir bleiben in Kontakt.
LK: Vielen Dank für die Einladung. Toll, dass Ihr diese Arbeit macht und auch Euch viel Erfolg dabei.
Copyright Bild: Julia Bornkessel
- https://www.tagesschau.de/investigativ/buehnen-struktureller-machtmissbrauch-100.html (zugegriffen am 03.04.2024) ↩︎
- https://www.ndr.de/kultur/buehne/NDR-Doku-zeigt-Machtmissbrauch-bei-Theater-und-Film,theaterfilm104.html (zugegriffen am 03.04.2024) ↩︎
- https://www.bz-berlin.de/unterhaltung/metoo-kulturbranche-besonders-anfaellig-fuer-machtmissbrauch (zugegriffen am 03.04.2024) ↩︎
- https://www.kulturrat.de/wp-content/uploads/2024/03/BaustelleGeschlechtergerechtigkeit.pdf (zugegriffen am 18.04.2024) ↩︎
- https://taz.de/Machtmissbrauch-an-Musikhochschulen/!5992156/ (zugegriffen am 03.04.2024) ↩︎
- https://die-deutschen-musikhochschulen.de/presse/ (zugegriffen am 03.04.2024) ↩︎